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Arbeitsrecht

Betriebliche Übung

Die betriebliche Übung führt zu Ansprüchen des Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber ohne sonstige, anderweitige Regelung in einem Arbeitsvertrag, Tarifvertrag o. ä.

Bei der betrieblichen Übung handelt es sich um ein gesetzlich nicht geregeltes Rechtsinstitut auf dem Gebiet des Arbeitsrechts. Die rechtsdogmatische Ableitung ist umstritten, was aber für die Rechtspraxis ohne größere Bedeutung ist.

Eine betriebliche Übung setzt voraus, dass der Arbeitnehmer regelmäßig und vorbehaltlos durch den Arbeitgeber eine Leistung erhält, auf die er außerhalb der Regeln über die betriebliche Übung keinen Anspruch hat. Zudem ist erforderlich, dass die Leistung, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer gewährt, kollektiven Bezug hat, sich also auf eine Vielzahl oder doch zumindest abgrenzbare Gruppe von Arbeitnehmern bezieht (BAG, Urt. v. 21.04.2010 – 10 AZR 163/09).

Klassisches Beispiel für eine betriebliche Übung ist die langjährige vorbehaltlose Gewährung von Weihnachtsgeld oder auch eines 13. Gehalts zugunsten des Arbeitnehmers. Hier geht man in der Regel dann von einer betrieblichen Übung aus, wenn der Arbeitgeber drei Mal ein solches Weihnachtsgeld bezahlt hat, ohne deutlich zu machen, dass er es sich vorbehält, von dieser Vorgehensweise in der Zukunft wieder Abstand zu nehmen.

Zur betrieblichen Übung sagt das Bundesarbeitsgericht (BAG, Urt. v. 21.06.2011 – 9 AZR 203/10): Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen dürfen, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden. Das als Vertragsangebot zu wertende Verhalten des Arbeitgebers wird von den Arbeitnehmern angenommen, indem sie die Leistung widerspruchslos entgegennehmen. Der Zugang der Annahmeerklärung ist nach § 151 S. 1 BGB entbehrlich. Durch die betriebliche Übung entstehen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Entscheidend für die Entstehung des Anspruchs ist nicht der Verpflichtungswille des Arbeitgebers. Maßgeblich ist, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste. Der Arbeitgeber kann sich auch im Hinblick auf Einmalleistungen durch eine betriebliche Übung binden.

In dem durch das Gericht entschiedenen Fall berief sich ein aus dem Arbeitsverhältnis ausgeschiedener Arbeitnehmer auf eine zu seinen Gunsten entstandene betriebliche Übung. Der Arbeitgeber hatte seit dem Jahr 1990 vorbehaltlos an Arbeitnehmer, die vor dem 63. Lebensjahr, und seit 1992 auch an Arbeitnehmer, die später aus einem Arbeitsverhältnis ausgeschieden waren, einen „Ausgleich“ gezahlt. Aus diesem regelmäßigen Verhalten durften die Arbeitnehmer nach Meinung des BAG auf einen entsprechenden Bindungswillen des Arbeitgebers schließen.

Der aus einer betrieblichen Übung entstandene vertragliche Anspruch kann nicht mehr durch einseitigen Widerruf der Vereinbarung abgeändert und damit aufgehoben werden; notwendig ist eine Änderungsvereinbarung zwischen den Parteien des Arbeitsvertrages oder eine durch den Arbeitgeber auszusprechende Änderungskündigung. Eine betriebliche Übung zuungunsten des Arbeitnehmers scheidet auf der Grundlage der rechtsgeschäftlichen Konstruktion der Rechtsprechung regelmäßig aus. Die zwischenzeitlich maßgebliche Rechtsprechung zur negativen bzw. gegenläufigen betrieblichen Übung ist überholt. Soll eine an ein Schweigen geknüpfte Fiktionswirkung eintreten, müssen die Voraussetzungen des § 308 Nr. 5 BGB (sog. AGB-Klauselkontrolle, dazu siehe auch unsere Ausführungen zum Stichwort Allgemeine Geschäftsbedingungen) gewahrt werden.

BAG, Urt. v. 25.01.2023 – 10 AZR 109/22, NJW-Spezial 2023, 308:

„Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden. Aus diesem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen. Entscheidend für die Entstehung eines Anspruchs ist nicht der Verpflichtungswille, sondern wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und ob er auf einen Bindungswillen des Arbeitgebers schließen durfte (vgl. BAG 23. August 2017 – 10 AZR 136/17 – Rn. 18 mwN). Bei den durch betriebliche Übung begründeten Vertragsbedingungen handelt es sich um Allgemeine Geschäftsbedingungen iSv. §§ 305 ff. BGB (BAG 16. Mai 2012 – 5 AZR 331/11 – Rn. 14, BAGE 141, 324; 5. August 2009 – 10 AZR 483/08 – Rn. 13).“

Siehe auch den Aufsatz von Hampe/Endriß, DB 2016, 1635 ff.

BAG, Urt. v. 19.09.2018 – 5 AZR 439/17, NJW 2019, 385 [Leitsatz]:

„Beschränkt der Arbeitgeber Entgelterhöhungen nicht auf den Arbeitsverdienst, den er durch die arbeitsvertragliche Inbezugnahme eines Tarifvertrags zu zahlen verpflichtet ist, sondern erhöht er zugleich den zusätzlich gewährten übertariflichen Entgeltbestandteil in gleicher Weise wie den tariflichen, kommt es für das Entstehen einer betrieblichen Übung in Bezug auf den übertariflichen Vergütungsanteil allein darauf an, wie die Arbeitnehmer das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände verstehen mussten und durften.“

Im Orientierungssatz heißt es:

„Für den Anspruch aus betrieblicher Übung ist unerheblich, ob der betreffende Arbeitnehmer selbst bisher schon in die Übung einbezogen worden ist. Sie richtet sich an alle Beschäftigten eines Betriebs oder zumindest kollektiv abgrenzbare Gruppen. Das Vertragsangebot des Arbeitgebers ist regelmäßig so zu verstehen, dass er – vorbehaltlich besonderer Abreden – alle Arbeitnehmer zu den im Betrieb üblichen Bedingungen beschäftigen will.“

BAG, Urt. v. 11.07.2018 – 4 AZR 443/17: „a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts können Tarifverträge zwar im Grundsatz im Wege einer betrieblichen Übung in Bezug genommen werden (…). Unter einer betrieblichen Übung ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers zu verstehen, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder eine Vergünstigung auf Dauer eingeräumt werden (…). Aus einem als Vertragsangebot zu wertenden Verhalten des Arbeitgebers, das von den Arbeitnehmern in der Regel stillschweigend angenommen wird (§ 151 BGB), erwachsen vertragliche Ansprüche auf die üblich gewordenen Leistungen (…). Dabei ist für die Entstehung eines Anspruchs entscheidend, wie der Erklärungsempfänger die Erklärung oder das Verhalten des Arbeitgebers nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung aller Begleitumstände (§§ 133, 157 BGB) verstehen musste und durfte (…). Insoweit kommt es nicht darauf an, ob der Arbeitgeber mit einem entsprechenden Verpflichtungswillen gehandelt hat. Die Wirkung einer Willenserklärung im Rechtsverkehr setzt ein, wenn der Erklärende aus der Sicht des Erklärungsempfängers einen auf eine bestimmte Rechtswirkung gerichteten Willen geäußert hat (…).

b) Eine betriebliche Übung kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn der Arbeitgeber zu den zu ihrer – möglichen – Begründung angeführten Verhaltensweisen durch andere Rechtsgrundlagen verpflichtet war (…). Eine betriebliche Übung entsteht auch dann nicht, wenn sich der Arbeitgeber irrtümlich aufgrund einer vermeintlichen Verpflichtung aus einer anderen Rechtsgrundlage zur Leistungserbringung verpflichtet glaubte (…). Wenn der Arbeitgeber die Leistungen für den Arbeitnehmer erkennbar aufgrund einer anderen, und sei es auch tatsächlich nicht bestehenden Rechtspflicht hat erbringen wollen, kann der Arbeitnehmer nicht davon ausgehen, ihm solle eine Leistung auf Dauer unabhängig von dieser Rechtspflicht gewährt werden (…).“

LAG Baden-Württemberg, Urt. v. 30.06.2020 – 9 Sa 13/20:

„1. Mit welchem Inhalt eine konkludente Vertragsänderung durch vorbehaltlose Zahlung einer Sonderzahlung zustande gekommen ist, ist durch Auslegung zu ermitteln. Maßgeblich ist dabei der ebenfalls durch Auslegung zu ermittelnde verfolgte Zweck der Sonderzahlung (BAG, Urt. v. 13.5.2015 – 10 AZR 266/14).

  1. Die Beweislast für die maßgeblichen Tatsachen, die zur Auslegung einer konkludenten vertraglichen Vereinbarung über Sonderzahlungen entweder als Vergütung für geleistete Arbeit einerseits oder andererseits als Zahlung, mit der (auch) andere Zwecke verfolgt werden trägt jeweils derjenige, der sich auf entsprechende Voraussetzungen der Sonderzahlung beruft.
  2. Macht der Arbeitnehmer geltend, dass ihm der Anspruch auf Zahlung eines „Weihnachtsgeldes“ auch bei mehrjähriger Erkrankung ohne Entgeltfortzahlung zusteht, da es sich um eine Vergütung mit Mischcharakter handelt, trägt er die Beweislast für einen solchen Inhalt einer vertraglichen Vereinbarung bzw. betrieblichen Übung.“

Zur Frage, ob ein Anspruch auf die Einräumung eines Homeoffice-Arbeitsplatzes im Wege der betrieblichen Übung begründet werden kann, siehe den Beitrag von Steinau-Steinrück/Beismann, NJW-Spezial 2020, 626 f.

(Letzte Aktualisierung: 12.06.2023)