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Gesundheit / Medizinrecht

Hypothetische Einwilligung

Die Rechtsfigur der hypothetischen Einwilligung kommt aus dem Zivilrecht. Im Bereich der Arzthaftung entfällt danach die Haftung des behandelnden Arztes im Falle eines Aufklärungsfehlers, wenn der Patient auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung dem jeweiligen Eingriff zugestimmt hätte. Die hypothetische Einwilligung hat inzwischen auch Eingang in das BGB gefunden; siehe hierzu 630h Abs. 2 Satz 2 BGB. Anders aber für den Fall der Lebendorganspende (BGH, Urt. v. 29.01.2019 – VI ZR 495/16 und VI ZR 318/17!).

BGH, Urt. v. 21.05.2019 – VI ZR 119/18, NJW 2019, 3072:

„aa) Genügt die Aufklärung nicht den an sie zu stellenden Anforderungen (§ 630e BGB bzw. Senat, Urteile vom 7. Februar 1984 – VI ZR 174/82, BGHZ 90, 103, 106; vom 12. März 1991 – VI ZR 232/90, NJW 1991, 2346, 2347; vom 11. Oktober 2016 – VI ZR 462/15, NJW-RR 2017, 533 Rn. 10 mwN) kann sich der Behandelnde darauf berufen, dass der Patient auch im Fall einer ordnungsgemäßen Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt hätte (§ 630h Abs. 2 Satz 2 BGB). An einen dahingehenden Nachweis, der dem Behandelnden obliegt, sind strenge Anforderungen zu stellen, damit nicht auf diesem Weg der Aufklärungsanspruch des Patienten unterlaufen wird. Den Arzt trifft für seine Behauptung, der Patient hätte bei ordnungsgemäßer Aufklärung in den Eingriff eingewilligt, die Beweislast aber erst dann, wenn der Patient zur Überzeugung des Tatrichters plausibel macht, dass er – wären ihm rechtzeitig die Risiken des Eingriffs verdeutlicht worden – vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte (st. Rspr., vgl. nur Senat, Urteile vom 5. Februar 1991 – VI ZR 108/90, VersR 1991, 547, juris Rn. 8 f. mwN; vom 14. Juni 1994 – VI ZR 260/93, NJW 1994, 2414, juris Rn. 11 mwN). Daran hält der Senat auch unter der Geltung der Vorschrift des § 630h Abs. 2 BGB fest, nachdem durch das Patientenrechtegesetz die bisherige Rechtsprechung zur Beweislastverteilung im Arzthaftungsrecht (lediglich) gesetzlich kodifiziert, nicht aber modifiziert werden sollte (BT-Drs. 17/10488, S. 9, 24, 27).

bb) Gedankliche Voraussetzung der hypothetischen Einwilligung ist stets die Hypothese einer ordnungsgemäßen, insbesondere auch vollständigen Aufklärung (Senat, Urteil vom 5. Februar 1991 – VI ZR 108/90, VersR 1991, 547; juris Rn. 8 f. mwN). Den Inhalt dieser Aufklärung hat das Berufungsgericht unrichtig bestimmt, weil es rechtsfehlerhaft nicht von der Sachlage vor der streitgegenständlichen Operation ausgegangen ist. Es hat keine Feststellungen dazu getroffen, welche Aufklärung der Klägerin vor dem streitgegenständlichen Eingriff hätte zu teil werden müssen (§ 630e Abs. 1 und 2 BGB). Es hat sich lediglich damit beschäftigt, welche Möglichkeiten der Beklagte zu 2 hatte, als er am 7. April 2014 feststellte, dass die geplante Gebärmutterspiegelung nicht durchgeführt werden konnte. Das Risiko, dass die Klägerin bei Manifestation eines Endometriumkarzinoms von der Prognose her von einem mit an Sicherheit heilbaren Frühkarzinom in das Stadium einer vermutlich nicht mehr heilbaren Krebserkrankung überführt worden wäre, bestand nach den – vom Berufungsgericht in Bezug genommenen – Ausführungen des Sachverständigen indes lediglich für den Fall, dass die Operation wie ursprünglich geplant durchgeführt worden wäre. Nur dann hätten durch die Zerstückelung des Gebärmutterkörpers Tumorzellen in die Bauchhöhle versprengt werden können. Das Berufungsgericht ist daher bei der der Klägerin mitgeteilten Aufklärung und damit auch bei seiner tatrichterlichen Bewertung, ob die Klägerin einen Entscheidungskonflikt plausibel gemacht hat, rechtsfehlerhaft nicht von einer ordnungsgemäßen Aufklärung ausgegangen, sondern hat zu Lasten der Klägerin Risiken berücksichtigt, die es nur bei der ursprünglich geplanten, tatsächlich nicht durchgeführten, laparoskopischen supra zervikalen Hysterektomie gegeben hätte.“

(Letzte Aktualisierung: 28.10.2019)