Massenentlassung
Unter einer Massenentlassung versteht man die grundsätzlich zeitgleiche Entlassung bzw. Kündigung einer Vielzahl von Arbeitnehmern durch einen Arbeitgeber, v. a. geregelt in §§ 17 ff. KSchG (Kündigungsschutzgesetz).
Ein Arbeitgeber ist unter den Voraussetzungen des § 17 KSchG grundsätzlich verpflichtet, die Entlassung mehrerer Arbeitnehmer innerhalb eines bestimmten Zeitraums der Bundesagentur für Arbeit mitzuteilen (Massenentlassungsanzeige). Ist ein Betriebsrat vorhanden, so ist dieser nach Maßgabe des Gesetzes zu konsultieren. Hierzu hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschieden (BAG, Urt. v. 21.03.2013 – 2 AZR 60/12, veröffentlicht u. a. in DB 2013, 1912):
„Ist vor Ausspruch einer Kündigung ein nach § 17 Abs. 2 KSchG erforderliches Konsultationsverfahren nicht durchgeführt worden, ist die Kündigung wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB rechtsunwirksam.“
Zugleich hat das BAG (a.a.O.) darauf aufmerksam gemacht, dass das Fehlen einer wirksamen Massenentlassungsanzeige ebenfalls die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hat; in der Erklärung der Kündigung ohne wirksame Massenentlassungsanzeige liege nämlich gleichfalls ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot i.S.v. § 134 BGB.
BAG, Urt. v. 13.02.2020 – 6 AZR 146/19 [Pressemitteilung]:
„Nach § 17 Abs. 1 KSchG muss der Arbeitgeber der Agentur für Arbeit eine sog. Massenentlassungsanzeige erstatten, bevor er in einem Betrieb eine bestimmte Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen entlässt. Damit hat der deutsche Gesetzgeber die unionsrechtliche Verpflichtung aus Art. 3 der Richtlinie 98/59/EG (Massenentlassungsrichtlinie – MERL) umgesetzt.
Bezüglich der Kündigungen des Cockpit-Personals der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin bestand eine Anzeigepflicht. Bei der Anzeige ist jedoch der für § 17 KSchG maßgebliche Betriebsbegriff der MERL verkannt und deswegen die Anzeige nicht für den richtigen Betrieb erstattet worden. Das hatte zur Folge, dass die Anzeige bei einer örtlich unzuständigen Agentur für Arbeit erfolgte und nicht die erforderlichen Angaben enthielt. Dies bewirkt die Unwirksamkeit der betroffenen Kündigungen.
Air Berlin unterhielt an mehreren Flughäfen sog. Stationen. Diesen war Personal für die Bereiche Boden, Kabine und Cockpit zugeordnet. Der Kläger war bei Air Berlin als Pilot mit Einsatzort Düsseldorf beschäftigt. Sein Arbeitsverhältnis wurde nach der am 1. November 2017 erfolgten Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung wie das aller anderen Piloten wegen Stilllegung des Flugbetriebs Ende November 2017 gekündigt. Air Berlin erstattete die Massenentlassungsanzeige für den angenommenen „Betrieb Cockpit“ und damit bezogen auf das bundesweit beschäftigte Cockpit-Personal. Dieses Betriebsverständnis beruhte auf den bei Air Berlin tarifvertraglich getrennt organisierten Vertretungen für das Boden-, Kabinen- und Cockpit-Personal (vgl. § 117 Abs. 2 BetrVG). Die Anzeige erfolgte wegen der zentralen Steuerung des Flugbetriebs bei der für den Sitz der Air Berlin zuständigen Agentur für Arbeit Berlin-Nord. Der Kläger hat die Stilllegungsentscheidung bestritten. Der Flugbetrieb werde durch andere Fluggesellschaften (teilweise) fortgeführt. Die Massenentlassungsanzeige sei fehlerhaft.
Die Vorinstanzen haben seine Kündigungsschutzklage abgewiesen. Die Revision des Klägers hatte vor dem Sechsten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg. Nach dem unionsrechtlich determinierten Betriebsbegriff des § 17 Abs. 1 KSchG handelte es sich bei den Stationen der Air Berlin um Betriebe im Sinne dieser Norm. Folglich hätte die Massenentlassungsanzeige für die der Station Düsseldorf zugeordneten Piloten bei der dafür zuständigen Agentur für Arbeit in Düsseldorf erfolgen müssen. Dort traten bei typisierender Betrachtung die Auswirkungen der Massenentlassung auf, denen durch eine frühzeitige Einschaltung der zuständigen Agentur für Arbeit entgegen getreten werden soll. Die Anzeige hätte sich zudem nicht auf Angaben zum Cockpit-Personal beschränken dürfen. Die nach § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG zwingend erforderlichen Angaben hätten vielmehr auch das der Station zugeordnete Boden- und Kabinen-Personal erfassen müssen. Für den Betriebsbegriff der MERL ist ohne Belang, dass diese Beschäftigtengruppen kollektivrechtlich in andere Vertretungsstrukturen eingebettet waren.“
BAG, Urt. v. 13.06.2019 – 6 AZR 459/18:
„Die nach § 17 Abs. 1 KSchG erforderliche Massenentlassungsanzeige kann erst dann wirksam erstattet werden, wenn der Arbeitgeber im Zeitpunkt ihres Eingangs bei der Agentur für Arbeit bereits zur Kündigung entschlossen ist. Kündigungen im Massenentlassungsverfahren sind daher – vorbehaltlich der Erfüllung sonstiger Kündigungsvoraussetzungen – wirksam, wenn die ordnungsgemäße Anzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit eingeht, bevor dem Arbeitnehmer das Kündigungsschreiben zugegangen ist.“
BAG, Beschl. v. 23.05.2024 – 6 AZR 152/22 (A):
Der Gerichtshof der Europäischen Union wird gemäß Art. 267 AEUV um die Beantwortung der folgenden Fragen ersucht:
„Ist der Zweck der Massenentlassungsanzeige erfüllt und somit eine Sanktion entbehrlich, wenn die nationale Arbeitsagentur eine – objektiv fehlerhafte – Massenentlassungsanzeige nicht beanstandet und sich damit als ausreichend informiert betrachtet, um ihren Aufgaben innerhalb der Fristen des Art. 4 der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (im Folgenden MERL) nachkommen zu können?
Gilt dies jedenfalls dann, wenn die Erreichung des Zwecks von Art. 3 MERL durch eine nationale arbeitsförderungsrechtliche Vorschrift sichergestellt ist und/oder die nationale Arbeitsagentur eine Pflicht zur Amtsermittlung hat?
Sofern die erste Frage verneint wird: Kann der Zweck von Art. 3 MERL noch erfüllt werden, wenn eine fehlerhafte oder gänzlich fehlende Massenentlassungsanzeige nach Zugang der Kündigung korrigiert bzw. ergänzt oder nachgeholt werden kann?
Wenn bei einer fehlerhaften oder fehlenden Massenentlassungsanzeige die Entlassungssperre nach Art. 4 Abs. 1 MERL die Sanktion für Fehler bei der Anzeige sein sollte, welcher Anwendungsbereich verbleibt dann insoweit noch für Art. 6 MERL?“
Siehe auch den Beitrag von Lingemann/Steinhauser, NJW 2017, 2245 ff. sowie den Aufsatz von Kempter in DB 2021, 283 ff. [„Personalabbau – Ablauf, Struktur und Probleme (Teil 2)“]. Lesenswert auch der Beitrag von Lembke in NJW 2024, 1985 ff. [„Massenentlassungen – alles zurück auf Anfang?“].
(Letzte Aktualisierung: 10.07.2024)
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Dr. Uwe P. Schlegel
Rechtsanwalt