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Gesundheit / Medizinrecht

Off-Label-Use

Als Off-Label-Use oder Off-Label-Einsatz bezeichnet man die therapeutische Verwendung von Medikamenten außerhalb der arzneimittelzulassungsrechtlichen Indikationsgebiete oder der Personengruppen, für die sie von den Arzneimittelbehörden zugelassen sind.

Grundsätzlich kann jedes Medikament vom Arzt off-label eingesetzt werden; das ist Bestandteil der ärztlichen Berufs- und Therapiefreiheit. Allerdings entstehen dem Arzt hierbei umfangreiche erweiterte Aufklärungspflichten und er trägt das Haftungsrisiko für die Therapie. Off-Label-Verordnungen werden in der Praxis daher nur auf Basis von gültigen Leitlinien, allgemein anerkannten Empfehlungen oder wissenschaftlicher Literatur durchgeführt.

In vielen Fachgebieten ist der Off-Label-Use medizinischer Alltag, insbesondere in der Kinderheilkunde (Pädiatrie), da wegen der eingeschränkten Testbarkeit von Medikamentenstudien (klinische Studien) nur wenige Medikamente für pädiatrische Behandlungen ausdrücklich zugelassen sind.

In einem Grundsatzurteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19.03.2002 (BSG, Urt. v. 19.03.2020 – B 1 KR 37/00 R, BSGE 89, 184 = NJW 2003, 460 = NZS 2002, 646) wurden Kriterien für eine Erstattung von Arzneimitteln außerhalb der zugelassenen Indikation (Off-Label-Use) durch die gesetzlichen Krankenversicherungen festgelegt: Es muss sich

  1. um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung handeln, für die
  2. keine andere Therapie verfügbar ist und bei der
  3. auf Grund der Datenlage die begründete Aussicht auf einen Behandlungserfolg besteht.

Siehe auch BSG, Urt. v. 13.12.2016 – B 1 KR 10/16 R [Behandlung mit Avastin (Bevacizumab) Entscheidungsgründe]:

„b) Der Versicherte konnte eine Versorgung mit Avastin auch im Rahmen eines Off-Label-Use zur Behandlung seines Glioblastoms auf Kosten der GKV weder nach § 35c SGB V, der die zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln aufgrund von Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses und im Falle von klinischen Studien regelt, noch nach allgemeinen Grundsätzen der Rechtsprechung beanspruchen. Für einen Anspruch aus § 35c SGB V liegt nichts vor. Entsprechend dem Rechtsgedanken der heute geltenden Anmerkung zu Abschnitt K Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) vom 18.12.2008/22.1.2009 (BAnz 2009, Nr 49a (Beilage), zuletzt vor Beginn der Behandlung des Versicherten geändert am 20.6.2013, BAnz AT 18.7.2013 B1 und BAnz AT 1.8.2013 B4, jeweils in Kraft getreten am 20.6.2013) bleiben die allgemeinen, vom erkennenden Senat entwickelten Grundsätze für einen Off-Label-Use zu Lasten der GKV unberührt, wenn – wie hier – ein nicht in der AM-RL geregelter Off-Label-Use betroffen ist (vgl BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 16 – BTX/A).

Die nach diesen Grundsätzen erforderlichen Voraussetzungen sind ebenfalls nicht erfüllt. Ein Off-Label-Use kommt danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn 2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann (vgl zB BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 17 f – Ilomedin; BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 17 mwN – BTX/A). Abzustellen ist dabei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse (vgl BSGE 95, 132 RdNr 20 = SozR 4-2500 § 31 Nr 3 RdNr 27 mwN – Wobe-Mugos E; im Falle des Systemversagens s BSG SozR 4-2500 § 27 Nr 10 RdNr 24 mwN – Neuropsychologische Therapie).

An einer aufgrund der Datenlage begründeten Erfolgsaussicht fehlt es. Von hinreichenden Erfolgsaussichten im dargelegten Sinne ist nur dann auszugehen, wenn Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das betroffene Arzneimittel für die relevante Indikation zugelassen werden kann. Es müssen also Erkenntnisse in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sein (allgemein zur Bedeutung der Phasen-Einteilung vgl BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 20 – Ilomedin) und einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen (vgl zB BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, RdNr 17 f – Ilomedin; BSGE 109, 211 = SozR 4-2500 § 31 Nr 19, RdNr 17 mwN – BTX/A). Nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen, bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) kam es bis zum Abschluss des von der Beklagten vorläufig finanzierten Therapieintervalls (24.6. bis zum 2.9.2013) nicht zu einer abgeschlossenen, veröffentlichten Studie in der Qualität einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III mit Relevanz für die Erkrankung des Versicherten.“

Auch im Arzthaftungsrecht kommt dem Off-Label-Use Bedeutung zu. Es ist jedoch keinesfalls so, dass ein Off-Label-Use per se zu Schadensersatzansprüche des Patienten bzw. Ansprüchen auf Entschädigung führen würde.

OLG Dresden, Urt. v. 15.05.2018 – 4 U 248/16:

„1. Bei der Behandlung eines Kindes ist der „off label use“ eines Schmerzmedikaments, das nur für Erwachsene zugelassen ist, zulässig, wenn in den einschlägigen medizinischen Fachkreisen Konsens über dessen voraussichtlichen Nutzen besteht.

2. Auch bei einer unzureichenden Aufklärung über schwerwiegende Nebenwirkungen eines Medikaments trägt der Patient die Darlegungs- und Beweislast, dass der von ihm behauptete Körperschaden auf der Einnahme beruht.

3. Treten infolge der Behandlung mit einem Schmerzmedikament kurzzeitige Nebenwirkungen auf, so kann es auch bei unzureichender Aufklärung gerechtfertigt sein, hierfür einen Anspruch auf Schmerzensgeld zu versagen.“

OLG Hamm, Urt. v. 31.01.2020 – 26 U 47/19:

„Eine zweite Kortisoninjektion muss nicht zwingend als behandlungsfehlerhaft gewertet werden, auch wenn die zeitliche Soll-Vorgabe des Medikamentenherstellers nicht eingehalten wird.

Dabei muss der Arzt eine Abwägung zwischen dem erhöhten Infektionsrisiko und der Beschwerdelinderung vornehmen. Vor einer solchen Behandlung muss der Patient auf die gesteigerten Risiken hingewiesen werden.

Bei mangelnder Aufklärung trägt der Patient die Beweislast dafür, dass die Kniegelenksinfektion durch die konkrete Injektion verursacht worden ist.“

In den Entscheidungsgründen heißt es:

„Der Einsatz von Medikamenten im off-label-use ist nicht per se unzulässig. Aufgrund seiner Therapiefreiheit hat der Arzt regelmäßig die freie Wahl hinsichtlich der konkret anzuwendenden Methode. Dies gilt auch für die Entscheidung, welches Medikament er für welche Indikation einsetzt und umfasst grundsätzlich auch den Einsatz eines Medikaments jenseits der vom Hersteller vorgegebenen Indikationen, den sog. Off-label-use. Dieser stellt nicht per se einen Behandlungsfehler dar. Der arzneimittelrechtlichen Zulassung eines Medikaments kommt primär Bedeutung für die Verkehrsfähigkeit zu; es besteht dann eine Vermutung für die Verordnungsfähigkeit in der konkreten Therapie (BGH, NJW 2007, 2767; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 7. Aufl., Rdn. B 9 m.w.N.). Ein off-label-use ist zulässig, wenn er unter sorgfältiger Abwägung der Vor- und Nachteile des für den beabsichtigten Gebrauch nicht zugelassenen Medikaments vertretbar ist und medizinisch-sachlich begründet erscheint (vgl. Martis/Winkhart Arzthaftungsrecht 5. Aufl. Rdn. A 1213c m.w.N.). Entsprechend kann der off-label-use eines Medikaments nur dann als fehlerhaft angesehen werden, wenn die verantwortliche medizinische Abwägung und ein Vergleich der zu erwartenden Vorteile des off-labe eingesetzten Medikaments sowie dessen abzusehende oder zu vermutende Nachteile einerseits mit der ggfs. möglichen Behandlung mit einem zugelassenen Medikament andererseits i.S. einer individuellen Kosten-Nutzen-Analyse die Anwendung der off-label verordneten Medikation nicht rechtfertigt (vgl. BGH, NJW 2007, 2767; OLG Hamm Urt. v. 25.02.2015 – 3 U 110/12, juris; Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht 7. Aufl., Rn. B 35 m.w.N.)“

Derzeit wird unter anderem der Off-Label-Use eines geburtseinleitenden Mittels, Cytotec (Wirkstoff Misoprostol), diskutiert. Dazu gibt es Informationen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vom 16.03.2020, verbunden mit Hinweisen auf Risiken eines Off-Label-Use. Das Arzneimittel scheint trotz dieser Hinweise verwendet zu werden. Die Hintergründe sind unklar. Möglichweise spielen die mit dem Einsatz des Medikaments verbundenen (geringen) Kosten eine Rolle. In den Hinweisen des BfArM heißt es unter anderem wörtlich:

„Das BfArM erreichen vermehrt Meldungen von schweren Nebenwirkungen (einschließlich exzessive uterine Tachysystolie, Uterusrupturen; reduzierter fetaler Herzrhythmus), die im Zusammenhang mit einer Anwendung von Cytotec außerhalb der Zulassung (sog. off-label-use) auftraten. Cytotec enthält das Prostaglandin E1-Derivat Misoprostol und ist lediglich als Ulkustherapeutikum zugelassen. Den Nebenwirkungsberichten ist zu entnehmen, dass Cytotec außerhalb der Zulassung im Rahmen von Geburtseinleitungen angewendet wurde. Für die Anwendung von Cytotec bei der Geburtseinleitung liegen keine ausreichenden Daten zur Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vor.“

Im Hinblick auf eine mögliche Arzthaftung dürfte es auch auf eine ausreichende und vor allem rechtzeitige Aufklärung betroffener Patientinnen ankommen.

(Letzte Aktualisierung: 16.09.2020)