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Strafrecht/Strafprozessrecht

Stealthing

Hierunter versteht man das heimliche Abstreifen eines Kondoms während des Geschlechtsverkehrs. Unter anderem nach Auffassung des BayObLG handelt es sich dabei um einen Fall der sexuellen Nötigung nach § 177 Abs. 1 StGB (BayObLG, Beschl. v. 20.08.2021 – 206 StRR 87/21). In den Urteilsgründen der zitierten Entscheidung heißt es:

„cc) Nach überwiegender Auffassung, der sich der Senat anschließt, erfasst der Tatbestand des § 177 Abs. 1 StGB grundsätzlich auch das absprachewidrige heimliche Abziehen eines Kondoms während des Geschlechtsverkehrs, das sog. ´Stealthing´ (zum Begriff vgl. nur Fischer, StGB, 68. Aufl. 2021, § 177 Rnrn. 2c, 9b).

(1) § 177 Abs. 1 StGB in der seit 10. November 2016 geltenden Fassung, mit der die sog. ´Nein-heißt-Nein-Lösung´ umgesetzt wurde, schützt das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung umfassend, ohne dass die Strafbarkeit wie in der zuvor geltenden Gesetzesfassung von einem Nötigungselement in Form von Gewalt, Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist (vgl. § 177 Abs. 1 StGB i.d.F. bis 9. November 2016) abhängt. Jegliche sexuelle Handlung im Sinne der Begriffsbestimmung des § 184h Nr. 1 StGB gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person ist unter Strafe gestellt. Die sexuelle Selbstbestimmung umfasst die Freiheit, über Partner, Zeitpunkt, Form und Art sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden (vgl. Fischer, StGB, § 177 Rn. 2).

(2) Ob die Strafnorm auch das heimliche Abziehen eines Kondoms während des Geschlechtsverkehrs erfasst, wird kontrovers diskutiert. Von der überwiegenden Rechtsprechung und Meinung im Schrifttum wird dies grundsätzlich bejaht (KG, Beschluss vom 27. Juli 2020, (4) 161 Ss 48/20 (58/20), juris – jedenfalls für den Fall der Ejakulation in den Körper des bzw. der Geschädigten; OLG Schleswig, Urteil v. 19. März 2021, 2 OLG 4 Ss 13/21, juris – ohne die vorgenannte vom KG vorgenommene Einschränkung; El Ghazi, StV 2021, 314, 317 f.; Makepeace, KriPoZ 2021, 10, 12 f.; Hoffmann, NStZ 2019, 16, 17 f.; Hoven, NStZ 2020, 578, 580 f.; Fischer, StGB § 177 Rn. 2c, 9a; Renzikowski in Münchener Kommentar, StGB, 4. Aufl. 2021, § 177 Rn. 51; Ziegler in BeckOK StGB, 50. Ed., Stand 1. Mai 2021, § 177 Rn. 9a; a.A. AG Kiel, Urt. v. 17. November 2020, 38 Ds 559 Js 11670/18, BeckRS 2020, 38969 aufgehoben von OLG Schleswig aaO.; Heger in Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl. 2018, § 177 Rn. 5 a.E.)

Der Senat teilt die Auffassung der herrschenden Meinung, die eine Strafbarkeit des Stealthing bejaht. § 177 Abs. 1 StGB dient, wie ausgeführt, umfassend dem Schutz der Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung. Nach dem Gesetzeswortlaut ist eine sexuelle Handlung dann strafbar, wenn sie dem erkennbaren Willen der anderen Person widerspricht. Sie ist daher nur dann durch ein tatbestandsmäßiges Einverständnis gedeckt, wenn die Grenze des Einverständnisses respektiert und nicht überschritten wird (vgl. Hoffmann a.a.O. S. 17). Die Auffassung, das Einverständnis i.S.d. § 177 Abs. 1 StGB beziehe sich (lediglich) ´auf die sexuelle Handlung´, deshalb reiche es für eine Strafbarkeit nicht aus, wenn der Wunsch nach Nutzung eines Kondoms ignoriert werde (so Herger a.a.O.), wird dem Schutzgut der Norm nicht gerecht. Zutreffend wird darauf hingewiesen, dass Geschlechtsverkehr ohne Kondom gegenüber Geschlechtsverkehr mit Kondom eine eigene und andere Qualität hat (vgl. OLG Schleswig a.a.O., juris Rn. 17). Dies kommt nicht zuletzt darin zum Ausdruck, dass die Verwendung eines Kondoms beim Geschlechtsverkehr, gerade außerhalb von festen Partnerschaften, in der Öffentlichkeit unter dem gefestigten Ausdruck ´Safer Sex´ beworben wird und in das öffentliche Bewusstsein eingedrungen ist. Das Interesse daran, sich vor Infektionen mit übertragbaren Krankheiten, sowie, bei weiblichen Sexualpartnerinnen, sich vor ungewollter Schwangerschaft zu schützen (vgl. OLG Schleswig a.a.O., KG a.a.O. juris Rn. 25 ff.; Renzikowski a.a.O. Rn. 51), wird häufig im Vordergrund bei der Willensentscheidung, nur mit Kondom geschlechtlich zu verkehren, stehen, aber auch weitere Motive sind denkbar. Die Bedingung der Verwendung eines Kondoms ist vor diesem Hintergrund konstitutiver Bestandteil des Einverständnisses mit der sexuellen Aktivität. Wird das Kondom entgegen der Absprache bzw. entgegen dem erkennbaren Willen heimlich entfernt, stellt dies eine erhebliche Abweichung von der konsentierten sexuellen Handlung dar. Nimmt der Täter ohne Wissen und Zustimmung des Opfers die sexuelle Handlung ohne Kondom vor, stellt dies eine erhebliche Missachtung dessen nach freiem Willen getroffenen Entscheidung dar und verwirklicht daher regelmäßig den Tatbestand des § 177 Abs. 1 StGB.

dd) Der gegenständliche Fall weist indessen Besonderheiten auf, die ergänzender Erörterung bedürfen. Gegenüber den Sachverhalten, die den genannten gerichtlichen Entscheidungen (KG, OLG Schleswig, je aaO.) zugrunde lagen und von denen ersichtlich auch die eine Strafbarkeit befürwortenden zustimmenden Stellungnahmen im Schrifttum ausgehen (vgl. nur Hoven, aaO. S. 581: ´Geschlechtsverkehr ohne Präservativ´; Makepeace, aaO. S. 12: ´absprachewidrig ungeschätzte Penetration´), weist er die Abweichung auf, dass es nach dem Abstreifen des Kondoms nicht mehr zum heimlich ungeschützten Vollzug des Geschlechtsverkehrs kam, sondern der Angeklagte lediglich erfolglos versucht hat, mit seinem Glied ohne Kondom in den Körper der Geschädigten einzudringen. Gleichwohl hat ihn die Kammer nicht nur gemäß §§ 177 Abs. 3, 22 StGB wegen versuchten sexuellen Übergriffs bzw. versuchter Vergewaltigung verurteilt (zur Tatbezeichnung der Tatvariante des § 177 Abs. 6 StGB als Vergewaltigung, obgleich es sich lediglich um eine Strafzumessungsbestimmung handelt, vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 2007, 2 StR 113/07, NStZ-RR 2007, 478), sondern wegen vollendeten sexuellen Übergriffs. Jedenfalls aufgrund der konkreten Umstände des Falls erkennt der Senat hierin nach den vorstehenden Maßgaben im Ergebnis keinen Rechtsfehler.“

Siehe auch BGH, Beschl. v. 13.12.2023 – 3 StR 372/22, NJW 2023, 701.

(Letzte Aktualisierung: 29.12.2021)