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Strafrecht/Strafprozessrecht

Suizidbegleitung

BGH, Urt. v. 03.07.2019 – 5 StR 393/18, NJW 2019, 3089:

„1. Der Angeklagte hat sich nicht wegen eines vollendeten Tötungsdelikts durch aktives Tun (§ 212 Abs. 1 StGB oder § 216 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht.

a) Der im Verschaffen des Zugangs zu den todbringenden Medikamenten liegende Tatbeitrag des Angeklagten stellt sich bei der gebotenen normativen Betrachtung als straflose Hilfeleistung zur eigenverantwortlich verwirklichten Selbsttötung D. s dar.

aa) Für die Abgrenzung einer straflosen Beihilfe zur Selbsttötung von der täterschaftlichen Tötung eines anderen ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs maßgeblich, wer in Vollzug des Gesamtplans die Herrschaft über das zum Tode führende Geschehen ausübt (BGH, Urteile vom 14. August 1963 – 2 StR 181/63, BGHSt 19, 135, 139 f.; vom 7. Februar 2001 – 5 StR 474/00, BGHSt 46, 279, 284; vom 20. Mai 2003 – 5 StR 66/03, NJW 2003, 2326, 2327; vom 4. Juli 2018 – 2 StR 245/17, BGHSt 63, 161; Beschluss vom 25. November 1986 – 1 StR 613/86, NJW 1987, 1092). Begibt sich der Sterbewillige in die Hand eines Dritten und nimmt duldend von ihm den Tod entgegen, dann hat dieser die Tatherrschaft über das Geschehen. Nimmt dagegen der Sterbewillige selbst die todbringende Handlung vor und behält er dabei die freie Entscheidung über sein Schicksal, tötet er sich selbst, wenn auch mit fremder Hilfe (vgl., jeweils mwN, BGH, Urteile vom 4. Juli 2018 – 2 StR 245/17, BGHSt 63, 161; vom heutigen Tag – 5 StR 132/18 .zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen.).

Letzteres ist hier der Fall. Frau D. übte, solange sie bei Bewusstsein war, allein die Herrschaft über das zu ihrem Tod führende Geschehen aus, indem sie freiverantwortlich die ihren Tod verursachende Dosis des Medikaments einnahm.

bb) Dem Angeklagten kann die Selbsttötungshandlung auch nicht nach den Grundsätzen der mittelbaren Täterschaft zugerechnet werden.

(1) Eine Benutzung des Suizidenten als „Werkzeug“ gegen sich selbst kann unter anderem gegeben sein, wenn dieser seinen Selbsttötungsentschluss aufgrund eines Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizits nicht freiverantwortlich gebildet hat (vgl. BGH, Urteile vom 5. Juli 1983 – 1 StR 168/83, BGHSt 32, 38, 41 f.; vom 28. Januar 2014 – 1 StR 494/13, BGHSt 59, 150, 168 und vom heutigen Tag – 5 StR 132/18; Beschlüsse vom 11. Januar 2011 – 5 StR 491/10, NStZ 2011, 341, 342; vom 16. Januar 2014 – 1 StR 389/13, StV 2014, 601, 602). Befindet sich der Suizident – vom „Suizidhelfer“ erkannt – in einer seine freie Willensbildung ausschließenden Lage, kann sich das Verschaffen der Möglichkeit des Suizids als in mittelbarer Täterschaft begangenes Tötungsdelikt darstellen (BGH, Urteil vom 28. Januar 2014 – 1 StR 494/13, BGHSt 59, 150, 168 f.; Beschluss vom 16. Januar 2014 – 1 StR 389/13).

Freiverantwortlich ist demgegenüber ein Selbsttötungsentschluss, wenn das Opfer die natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit für seine Entscheidung besitzt und Mangelfreiheit des Suizidwillens sowie innere Festigkeit des Entschlusses gegeben sind (vgl. BGH, Urteile vom 7. August 1984 – 1 StR 200/84, NStZ 1985, 25, 26; vom 7. Oktober 2010 – 3 StR 168/10, NStZ 2011, 340 f., und vom 21. Dezember 2011 – 2 StR 295/11, NStZ 2012, 319, 320; Beschluss vom 8. Juli 1987 – 2 StR 298/87, NJW 1988, 1532). Zum Ausschluss der Freiverantwortlichkeit müssen konkrete Umstände festgestellt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 16. Januar 2014 – 1 StR 389/13, StV 2014, 601, 603). Als solche kommen insbesondere Minderjährigkeit des Opfers oder krankheits- sowie intoxikationsbedingte Defizite in Frage (vgl. BGH, Urteile vom 22. Januar 1981 – 4 StR 480/80, NJW 1981, 932; vom 28. Oktober 1982 – 1 StR 501/82, NStZ 1983, 72; vom 11. April 2000 – 1 StR 638/99, NStZ 2001, 205, 206; vom 29. April 2009 – 1 StR 518/08, BGHSt 53, 288, 290, und vom 7. Oktober 2010 – 3 StR 168/10; Beschluss vom 11. Januar 2011 – 5 StR 491/10, NStZ 2011, 341, 342). Der Selbsttötungsentschluss kann auch dann mangelbehaftet sein, wenn er auf Zwang, Drohung oder Täuschung durch den Täter beruht (vgl. BGH, Urteile vom 5. Juli 1983 – 1 StR 168/83, BGHSt 32, 38, 43; vom 3. Dezember 1985 – 5 StR 637/85, JZ 1987, 474; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., Vor § 211 Rn. 13b; MüKo-StGB/Schneider, 3. Aufl., § 216 Rn. 22). Dasselbe gilt, wenn er einer bloßen depressiven Augenblicksstimmung entspringt, mithin nicht von innerer Festigkeit und Zielstrebigkeit getragen ist (vgl. BGH, Urteile vom 7. Oktober 2010 – 3 StR 168/10, NStZ 2011, 340, 341, und vom 14. September 2011 – 2 StR 145/11, NStZ 2012, 85, 86; MüKo-StGB/Schneider, aaO, Rn. 19).

(2) Gemessen hieran ist die auf rechtsfehlerfreien Feststellungen beruhende Wertung des Landgerichts, Frau D. habe ihren ernstlichen Entschluss, aus dem Leben zu scheiden, ohne Wissens- oder Verantwortlichkeitsdefizite freiverantwortlich gebildet und umgesetzt, im Ergebnis nicht zu beanstanden.“

Siehe dazu den Beitrag von Kubiciel in NJW 2019, 3033 ff.

(Letzte Aktualisierung: 23.10.2019)