Ewigkeitsgarantie
Siehe dazu etwa BVerfG, Urt. v. 23.01.2024 – 2 BvB 1/19, NJW 2024, 645, 651 f.:
„Art. 79 Abs. 3 GG bestimmt, dass eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden, unzulässig ist. Die Norm errichtet für den verfassungsändernden Gesetzgeber unverbrüchliche Schranken und entzieht den Verfassungsgrundsatz der Achtung der Menschenwürde und die Staatsstrukturprinzipien jeder Verfassungsänderung (vgl. BVerfGE 30, 1 <24>; 30, 1 <38 f.> <Sondervotum>; 123, 267 <343>).
Die von Art. 79 Abs. 3 GG umfassten Inhalte genießen demgemäß absoluten Bestandsschutz (sog. Ewigkeitsgarantie, vgl. BVerfGE 123, 267 <344>). Hieraus folgt, dass Art. 79 Abs. 3 GG im Vergleich zu anderen Verfassungsnormen als übergeordnet anzusehen ist und Verfassungsänderungen, welche die durch Art. 79 Abs. 3 GG gezogenen Grenzen nicht beachten, sich ihrerseits als „verfassungswidriges Verfassungsrecht“ darstellen würden und nichtig wären. Art. 79 Abs. 3 GG bestimmt damit diejenigen Gehalte, an denen sich auch der verfassungsändernde Gesetzgeber messen lassen muss (vgl. BVerfGE 142, 25 <66 Rn. 112>).
Dass im Falle einer (revolutionären) Neuschaffung einer Verfassungsordnung die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsätze jedenfalls faktisch beseitigt werden können, führt nicht dazu, dass die verfasste Gewalt, zu der auch der verfassungsändernde Gesetzgeber gehört, nicht an diese Grundsätze gebunden ist (vgl. Hain, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 34).
(…) Art. 79 Abs. 3 GG benennt als geschützte, auch im Wege der Verfassungsänderung nicht abänderbare Inhalte ausdrücklich die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze. Diese Aufzählung ist abschließend (vgl. BVerfGE 84, 90 <120 f.>; 94, 12 <33 f.>; Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 79 Rn. 16 <Aug. 2023>). Was unter den genannten Inhalten im Einzelnen zu verstehen ist, ist durch Auslegung zu ermitteln (vgl. BVerfGE 30, 1 <17 ff.>; 84, 90 <120>; Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 79 Rn. 22 <Aug. 2023>).
Inhaltlich geschützt werden durch Art. 79 Abs. 3 GG insbesondere die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze. Einbezogen sind damit grundsätzlich alle in Art. 20 GG genannten Staatsorganisationsprinzipien (vgl. Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 79 Rn. 26, 31 <Aug. 2023>; Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Abs. 3 Rn. 26; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 79 Rn. 62 <Juli 2014>). Eine Ausnahme besteht nur für das Widerstandsrecht in Art. 20 Abs. 4 GG, da dieses erst nachträglich im Zuge der Reformen zur sogenannten Notstandsgesetzgebung in das Grundgesetz eingefügt wurde und beim Erlass des Art. 79 Abs. 3 GG noch nicht galt (siehe hierzu nur Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Abs. 3 Rn. 54 m.w.N.). Allerdings ist Art. 79 Abs. 3 GG nicht auf einen umfassenden Bestandsschutz aller konkret verwirklichten Ausprägungen der genannten Prinzipien, sondern nur auf die Wahrung der Kernelemente der dadurch etablierten verfassungsmäßigen Ordnung gerichtet (vgl. BVerfGE 30, 1 <24>; Dietlein, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Art. 79 Rn. 15 <Aug. 2023>; Dreier, in: ders., GG, 3. Aufl. 2015, Art. 79 Abs. 3 Rn. 26). Die Regelung soll verhindern, dass die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes missbraucht werden kann (vgl. BVerfGE 30, 1 <24>). Anpassungen einzelner Ausprägungen des Demokratie- und Rechtsstaatsprinzips im Wege verfassungsändernder Gesetzgebung steht Art. 79 Abs. 3 GG daher nicht entgegen.
Dies bringt der Wortlaut der Norm zum Ausdruck, wenn es dort heißt, dass eine Änderung des Grundgesetzes unzulässig ist, wenn dadurch die vorgenannten Grundsätze berührt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu festgestellt, dass eine Berührung der in Bezug genommenen Grundsätze nicht vorliegt, wenn ihnen im Allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden. Im Ergebnis sind daher hohe Anforderungen an einen Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG zu stellen. Die Norm gewährleistet, dass der Staat unter dem Grundgesetz die grundlegenden Werte der staatlichen Ordnung anerkennt und sie weder aufgibt noch sich für gegenläufige Prinzipien entscheidet. Eine Verfassungsänderung darf mithin nicht dazu führen, dass einer der in Bezug genommenen Grundsätze in seinem substantiellen Gehalt beeinträchtigt oder beseitigt wird (vgl. BVerfGE 30, 1 <24>).
Demgemäß handelt es sich bei Art. 79 Abs. 3 GG um eine Ausnahmevorschrift, die restriktiv anzuwenden ist (vgl. BVerfGE 30, 1 <24 f.>; Bryde, in: von Münch/Kunig, GG, 7. Aufl. 2021, Art. 79 Rn. 37; Herdegen, in: Dürig/Herzog/Scholz, GG, Art. 79 Rn. 80 <Juli 2014>; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982, S. 182; krit. Hain, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 79 Rn. 32). Die Annahme verfassungswidrigen Verfassungsrechts scheidet von vornherein aus, wenn nur untergeordnete Ausprägungen der genannten Prinzipien betroffen sind, ihr Kernbereich aber unangetastet bleibt (vgl. BVerfGE 30, 1 <24 f.>). Art. 79 Abs. 3 GG ist in seinem Schutzgehalt nicht betroffen, wenn einzelne Modifikationen der genannten Grundsätze erfolgen, ohne dass deren prägende Bedeutung für die Verfassungsordnung berührt wird.“
(Letzte Aktualisierung: 22.04.2024)
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Dr. Uwe P. Schlegel
Rechtsanwalt