Startseite | Aktuelles | Sind chirurgische Instrumente, die von einem Arzt bestimmungsgemäß eingesetzt werden, einem Messer oder einem anderen gefährlichen Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr.2, 2. Alt. StGB gleichzustellen?

Sind chirurgische Instrumente, die von einem Arzt bestimmungsgemäß eingesetzt werden, einem Messer oder einem anderen gefährlichen Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr.2, 2. Alt. StGB gleichzustellen?

Sind chirurgische Instrumente, die von einem Arzt bestimmungsgemäß eingesetzt werden, einem Messer oder einem anderen gefährlichen Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr.2, 2. Alt. StGB gleichzustellen?
Frage des Tages
24.04.2024

Sind chirurgische Instrumente, die von einem Arzt bestimmungsgemäß eingesetzt werden, einem Messer oder einem anderen gefährlichen Werkzeug i.S.v. § 224 Abs. 1 Nr.2, 2. Alt. StGB gleichzustellen?

Ja, meint der BGH (BGH, Beschl. v. 19.12.2023 – 4 StR 325/23) und weicht damit von einer jahrzehntelangen Rechtsprechung ab. Das Gericht beruft sich auf eine seit 1998 geänderte Gesetzeslage. In den Entscheidungsgründen heißt es:

„Die Urteilsgründe tragen hinsichtlich der erfolgten operativen Eingriffe allerdings eine Strafbarkeit gemäß § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB.

(…) Ein gefährliches Werkzeug im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist ein Tatmittel, das nach seiner objektiven Beschaffenheit und der Art seiner Verwendung im Einzelfall dazu geeignet ist, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen (st. Rspr.; etwa BGH, Beschluss vom 10. Februar 2021 – 1 StR 478/20 Rn. 12; Beschluss vom 16. Juni 2015 – 2 StR 467/14 Rn. 10). Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf das chirurgische Gerät, mit dem in den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe jeweils die Bauchwand durchtrennt bzw. durchstochen wurde, sowohl in objektiver als auch in subjektiver Hinsicht vor.

(…) Die zu § 223a StGB aF ergangene Rechtsprechung steht dieser Auslegung nicht entgegen. Danach standen chirurgische Instrumente (etwa ein Skalpell oder eine zahnärztliche Extraktionszange), die von einem approbierten Arzt bestimmungsgemäß bei einem Heileingriff eingesetzt wurden, unabhängig von ihrer konkreten Verwendungsweise weder einem Messer noch einem anderen gefährlichen Werkzeug im Sinne dieser Vorschrift gleich (BGH, Urteil vom 24. Mai 1960 – 5 StR 521/59, juris Rn. 19 ff.; Urteil vom 22. Februar 1978 – 2 StR 372/77, NJW 1978, 1206; vgl. auch Urteil vom 23. Dezember 1986 – 1 StR 598/86, BGHR StGB § 223a Abs. 1 Werkzeug 1). Ausgehend von dem Wortlaut der alten Gesetzesfassung, nach der ein Messer oder ein anderes gefährliches Werkzeug nur Beispielsfälle einer Waffe darstellten, wurden die Voraussetzungen dieser Tatvariante lediglich dann als erfüllt angesehen, wenn der Täter den Gegenstand bei einem Angriff oder Kampf zu Angriffs- oder Verteidigungszwecken benutzte, was bei einem bestimmungsgemäßen Einsatz als Heilinstrument nicht der Fall war (BGH, Urteil vom 24. Mai 1960 – 5 StR 521/59 aaO; Urteil vom 22. Februar 1978 – 2 StR 372/77 aaO). Dies galt auch dann, wenn es an einer medizinischen Indikation für den Eingriff fehlte (BGH, Urteil vom 22. Februar 1978 – 2 StR 372/77 aaO). Anders wurde der Gebrauch von ärztlichen Instrumenten allerdings dann bewertet, wenn der Eingriff durch einen vermeintlichen – tatsächlich also nicht geprüften bzw. approbierten – Heilkundigen durchgeführt wurde (BGH, Urteil vom 23. Dezember 1986 – 1 StR 598/86 aaO; vgl. auch BGH, Beschluss vom 28. Oktober 2020 – 1 StR 158/20, NStZ-RR 2021, 109, 110).

(…) Diese zu § 223a StGB aF ergangene einschränkende Rechtsprechung, die bestimmungsgemäß verwendete ärztliche Instrumente – trotz einer in der konkreten Verwendungssituation gegebenen Eignung zur Herbeiführung erheblicher Verletzungsfolgen – aufgrund des fehlenden Angriffs- bzw. Verteidigungszwecks nicht als gefährliche Werkzeuge ansah, kann auf die seit dem 1. April 1998 geltende Gesetzesfassung des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB (BGBl. I S. 164) jedenfalls in Bezug auf medizinisch nicht indizierte Eingriffe nicht übertragen werden (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 2022, 687 Rn. 7; kritisch zu der zu § 223a StGB aF ergangenen Rechtsprechung auch Grünewald in LK-StGB, 13. Aufl., § 224 Rn. 22; Hardtung in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 224 Rn. 50; Eschelbach in BeckOK-StGB, 60. Ed., § 224 Rn. 28.1 ff.; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 224 Rn. 8; Fischer, StGB, 71. Aufl., § 224 Rn. 15a; Lorenz, medstra 2022, 220, 224; jew. mwN).

(…) Nach dem Gesetzeswortlaut des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB stellt ein anderes gefährliches Werkzeug kein Beispiel mehr für eine Waffe dar; vielmehr handelt es sich bei einer Waffe – umgekehrt – nunmehr um einen Unterfall eines gefährlichen Werkzeugs (vgl. BGH, Beschluss vom 3. Juni 2008 – 3 StR 246/07, BGHSt 52, 257 Rn. 13 zu § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB; OLG Karlsruhe NStZ 2022, 687 Rn. 7; Hardtung in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 224 Rn. 50). Zwar geht aus der Gesetzesbegründung nicht hervor, was den Gesetzgeber zur Änderung des Wortlauts im Vergleich zu § 223a StGB aF veranlasste; dieser ging – soweit ersichtlich – wohl davon aus, die bisherigen Merkmale des § 223a StGB in den neu gefassten § 224 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 StGB übernommen zu haben (vgl. BT-Drucks. 13/8587 S. 36; BT-Drucks. 13/9064 S. 15 [„In § 224 Abs. 1 Nr. 2 bis 5 neu werden sämtliche Fälle des geltenden § 223a aufgegriffen.“]; vgl. auch Bergschneider, StraFo 2023, 244). Dies ändert aber nichts daran, dass ein gefährliches Werkzeug nach dem für die Auslegung maßgeblichen Wortsinn, wie er sich aus dem Kontext des Gesetzes erschließt (vgl. BVerfG, NJW 2007, 1666 Rn. 20), nunmehr den Oberbegriff darstellt.

(…) In Abgrenzung zur Waffe setzt ein gefährliches Werkzeug danach gerade nicht mehr voraus, generell zum Einsatz als Angriffs- oder Verteidigungsmittel bestimmt zu sein (BGH, Beschluss vom 3. Juni 2008 – 3 StR 246/07, BGHSt 52, 257 Rn. 13 zu § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB). Dementsprechend können auch Alltagsgegenstände wie beispielsweise eine brennende Zigarette (vgl. BGH, Urteil vom 27. September 2001 – 4 StR 245/01, NStZ 2002, 86) oder ein „fester Turnschuh“ (vgl. BGH, Urteil vom 15. September 2010 – 2 StR 395/10, NStZ-RR 2011, 337) als gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu bewerten sein, wenn sie nach der Art ihrer Benutzung im Einzelfall geeignet sind, erhebliche Körperverletzungen herbeizuführen. Unter Zugrundlegung dieser Einstufung von Gegenständen als gefährliche Werkzeuge, nämlich anhand ihrer potenziellen Gefährlichkeit hinsichtlich erheblicher Körperverletzungen, können regelgerecht eingesetzte chirurgische Instrumente nicht mit der Erwägung aus dem Anwendungsbereich von § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB ausgeschlossen werden, es fehle ihnen an der Bestimmung als Angriffs- oder Verteidigungsmittel.

(…) Für dieses Auslegungsergebnis streiten zudem gesetzessystematische Erwägungen. Das Tatbestandsmerkmal des „anderen gefährlichen Werkzeugs“ findet sich auch in weiteren qualifizierenden Straftatbeständen (§ 177 Abs. 7 Nr. 1 und Abs. 8 Nr. 1; § 244 Abs. 1 Nr. 1 a); § 250 Abs. 1 Nr. 1 a) und Abs. 2 Nr. 1 StGB). Zwar weisen diese Qualifikationstatbestände keine einheitliche dogmatische Struktur auf, da sie tatbestandlich teilweise bereits das Beisichführen des Tatmittels erfassen, teils aber auch an dessen Verwendung anknüpfen. Ungeachtet dieses Unterschieds besteht in der höchstrichterlichen Rechtsprechung Einigkeit darüber, dass ein gefährliches Werkzeug in diesen Fällen jedenfalls keine Bestimmung als Angriffs- oder Verteidigungsmittel voraussetzt; es reicht vielmehr aus, dass der jeweilige Gegenstand objektiv geeignet ist, erhebliche Verletzungen zu verursachen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. September 2021 – 4 StR 166/21 Rn. 6; Beschluss vom 3. Februar 2021 – 4 StR 263/20 Rn. 8 [jeweils zu § 177 Abs. 7 Nr. 1 StGB]; Urteil vom 20. September 2017 – 1 StR 112/17 Rn. 15; Beschluss vom 21. Juni 2012 – 5 StR 286/12 Rn. 4; Beschluss vom 3. Juni 2008 – 3 StR 246/07, BGHSt 52, 257 Rn. 13, 32 ff. [jeweils zu § 244 Abs. 1 Nr. 1 a) StGB]; Urteil vom 18. Februar 2010 – 3 StR 556/09 Rn. 6 [zu § 250 Abs. 1 Nr. 1 a) und Abs. 2 Nr. 1 StGB]). Mit dieser Rechtsprechung wäre es nicht zu vereinbaren, wenn man chirurgisches Gerät, das bei einem medizinisch nicht indizierten operativen Eingriff zum Einsatz kommt, von vornherein unter Verweis auf dessen fehlenden Charakter als Angriffs- oder Verteidigungsmittel aus dem Anwendungsbereich des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB ausscheiden würde.

(…) Schließlich wird das Auslegungsergebnis auch durch teleologische Erwägungen bestätigt. Sämtliche Begehungsvarianten des § 224 StGB zeichnen sich durch eine besonders gefährliche Begehungsweise aus (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2002 – 5 StR 210/02, BGHSt 47, 384, 387; Urteil vom 23. Juni 1964 – 5 StR 182/64, BGHSt 19, 352, 353 zu § 223a StGB aF; Hardtung in MüKo-StGB, 4. Aufl., § 224 Rn. 1; Grünewald in LK-StGB, 13. Aufl., § 224 Rn. 1). Eine solche erhöhte Gefährlichkeit kann gerade auch beim Einsatz von chirurgischem Gerät, das bestimmungsgemäß von einer ärztlichen Behandlungsperson verwendet wird, bestehen. Ob dies der Fall ist, richtet sich – wie auch bei anderen Tatmitteln im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB – nach der objektiven Beschaffenheit des Gegenstandes und der Art seiner Benutzung im Einzelfall. Entgegen teilweise vertretener Ansicht (vgl. Engländer in Matt/Renzikowski, StGB, 2. Aufl., § 224 Rn. 7; Bergschneider, StraFo 2023, 244) kann eine erhöhte Gefährlichkeit von chirurgischen Instrumenten auch nicht von vornherein mit Blick auf die Sachkompetenz der Behandlungsperson verneint werden (vgl. OLG Karlsruhe, NStZ 2022, 687 f.; Vogel, NStZ 2022, 688; siehe auch Ulsenheimer/Gaede in Ulsenheimer/Gaede, Arztstrafrecht in der Praxis, 6. Aufl., Rn. 623).

(…) Die rechtliche Bewertung von chirurgischem bzw. sonstigem ärztlichen Instrumentarium richtet sich somit jedenfalls bei medizinisch nicht indizierten Eingriffen, über die der Senat hier ausschließlich zu entscheiden hat, nach den allgemein für gefährliche Werkzeuge im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 2 Var. 2 StGB geltenden Rechtsprechungsmaßstäben, weshalb vorliegend in den Fällen II. 1 und 2 der Urteilsgründe dieser Qualifikationstatbestand erfüllt ist.

(…) § 265 StPO steht der abweichenden rechtlichen Würdigung nicht entgegen, da sich die – die operativen Eingriffe als solche einräumende – Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.

(…) Es bedurfte zudem auch keiner Vorlage nach § 132 Abs. 2 GVG, da die rechtliche Grundlage der früheren Entscheidungen infolge der erwähnten Gesetzesänderung entfallen ist (vgl. BVerfG NStZ 1993, 90, 91; BGH, Beschluss vom 14. Juli 1998 – 4 StR 273/98, BGHSt 44, 121, 124; Feilcke in KK-StPO, 9. Aufl., § 132 GVG Rn. 8).“

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Dr. Uwe P. Schlegel
Rechtsanwalt

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