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Untypischer Auffahrunfall

Aktuelles
27.08.2020

Untypischer Auffahrunfall

Das Landgericht (LG) Potsdam hatte sich mit einem Fall zu befassen, in dem es zu einem Auffahrunfall gekommen war. Obwohl dies im Regelfall dazu führt, dass sich der Auffahrende schadensersatzpflichtig macht und ggf. auch Schmerzensgeld zu zahlen hat, verhielt es sich im konkret entschiedenen Fall anders. In den Entscheidungsgründen des Urteils des LG Potsdam heißt (LG Potsdam, Urt. v. 14.5.2020  2 O 26/18):

Dem Kläger steht jedoch nur ein Anspruch in Höhe von 50 % des dem Grunde nach entstandenen Schadens und Schmerzensgeldes zu. Dem Kläger ist nicht gelungen, einen über die Betriebsgefahr hinausgehenden Verursachungsbeitrag des Beklagtenfahrzeuges zu beweisen. Insbesondere streitet für den Kläger nicht der Beweis des ersten Anscheins dahingehend, daß der Fahrer des auffahrenden Fahrzeuges den Auffahrunfall verschuldet habe.

Voraussetzung der Anwendung des Beweises ersten Anscheins ist ein sogenannter typischer Geschehensablauf, also ein sich aus der Lebenserfahrung bestätigender gleichförmiger Vorgang, durch dessen Typizität es sich erübrigt, die tatsächlichen Einzelumstände eines bestimmten historischen Geschehens nachzuweisen (MüKoZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, ZPO § 286 Rn. 48). Bei einem typischen Auffahrunfall, spricht der Anscheinsbeweis dafür, daß der Auffahrende entweder durch einen ungenügenden Sicherheitsabstand, durch unangepaßte Geschwindigkeit und/oder durch allgemeine Unaufmerksamkeit den Unfall schuldhaft verursacht hat (OLG Düsseldorf, Urteil vom 29. September 2005 – I-10 U 203/04 -, juris). Der Gegenbeweis wird regelmäßig dadurch geführt, daß der Beweisgegner konkrete Tatsachen behauptet und zur Überzeugung des Gerichts nachweist – oder sie wie vorliegend unstreitig sind -, aus denen sich die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs im konkreten Fall ergibt. Dann ist der Schluß aus dem typischen Geschehensablauf, auf dem der Anscheinsbeweis beruht, außer Kraft gesetzt und durch die Möglichkeit ersetzt, daß ausnahmsweise ein atypischer Sachverhalt vorliegt (MüKoZPO/Prütting, 5. Aufl. 2016, ZPO § 286 Rn. 65).

Vorliegend liegt ein solcher atypischer Sachverhalt und damit gerade kein typischer Auffahrunfall vor. Ein alternativer Geschehensablauf zum typischen Auffahrunfall kommt ernsthaft in Betracht. Beim gegenständlichen Unfall handelt es sich gerade nicht um einen typischen Verkehrsvorgang, in welchem ein Verkehrsteilnehmer auf das Fahrzeug eines beliebigen anderen Verkehrsteilnehmers auffährt. Vielmehr standen die Fahrzeuge und die Fahrzeugführer sowohl durch das unmittelbare Vorgeschehen als auch durch die Beziehungen der Fahrzeugführer beziehungsweise Fahrzeughalter in einem Verhältnis zueinander, welches die ernsthafte Möglichkeit eines abweichenden Geschehensablaufs nahelegt. Der Kläger nutzte den Straßenverkehr gerade nicht primär zur Fortbewegung, sondern um seiner – zumindest auch – auf dem verlorenen Prozeß beruhenden Abneigung gegen den Zeugen G. freien Lauf zu lassen, diesem das Leben schwer zu machen und ihn zu tyrannisieren. Der Beklagte zu 2. war der Geschäftsführer der seinerzeitigen Prozeßgegnerin des Klägers, so daß die Abneigung des Klägers naheliegenderweise auch den Beklagten zu 2. umfaßt. Der Kläger mißbrauchte den Straßenverkehr jedenfalls am Unfalltag zum Ausleben von Machtspielchen und Animositäten. Das legt jedenfalls die Möglichkeit eines atypischen Hergangs des Auffahrunfalls nahe. Gerade das Ausbremsen eines Fahrzeuges gehört zum typischen Repertoire von Personen, die den Straßenverkehr für Machtspielchen nutzen. Hierzu gehört auch die in besonderem Maße gefährliche Form des Ausbremsens, die nicht durch Betätigung der Fußbremse, sondern durch abruptes Einlegen eines deutlich niedrigeren Ganges sowie Anziehen der Handbremse erfolgt. Hierbei leuchten die Bremslichter nicht auf, so daß dem nachfolgenden Verkehr kein Warnsignal und Reaktionsbefehl für den Bremsvorgang gegeben wird. Aus Sicht des Ausbremsenden hat dies darüber hinaus den Vorteil, daß sich der Bremsvorgang nicht durch eine verformte Glühendwendel in den Bremslichtern nachweisen ließe.

Ob der Kläger so verfahren hat, vermag dahinzustehen. Es erscheint aus Sicht des Gerichts jedoch im konkreten Fall eine nicht fernliegende, vielmehr sogar naheliegende Geschehensvariante. Der Sachverständige hat in seiner persönlichen Anhörung ausgeführt, daß auf diese Weise eine hinreichende Bremsverzögerung erreicht werden könnte, die plausibel zu einem Auffahrunfall führen kann. Die Entstehung einer Bremsspur sei in diesem Fall nicht zwingend zu erwarten, im übrigen fehlten belastbare Feststellungen zu Bremsspuren ohnehin. Ferner ist das Gericht davon überzeugt, daß dem Kläger die vorstehend dargestellte Möglichkeit bekannt ist. Der Kläger war Polizeibeamter und hatte daher bereits in seiner Ausbildung Fahrtrainings absolviert. Entsprechende Kenntnisse sind bei ihm jedoch nicht nur berufsbedingt vorauszusetzen. Er stellte sich vielmehr in der mündlichen Verhandlung am 30. April 2020 als Fachmann für Verkehrsunfälle dar. Auffällig war jedoch, daß der Kläger es entgegen seiner Fachkunde als kaum machbar bezeichnete, gleichzeitig herunterzuschalten und die Handbremse zu ziehen. Hierbei gestikulierte er mit der rechten Hand, um zu demonstrieren, daß diese nicht beide Handlungen gleichzeitig bewerkstelligen könnte. Dabei ist dem Kläger selbstredend hinlänglich bewußt, daß er nur zunächst bei durchgetretener Kupplung einen niedrigen Gang einlegen müßte, um sodann gleichzeitig die Handbremse mit der dann freien rechten Hand zu ziehen und die Kupplung mit dem Fuß schnell kommen zu lassen. Zudem versuchte der Kläger merklich den Finger in die vermeintliche Wunde der nicht verformten Glühwendel zu legen. Auch war er erstaunlich informiert über die Bewegungsabläufe eines Fahrzeuges im Falle einer Abbremsung durch die Handbremse, obzwar er mit einer Erörterung dieser Frage nicht hatte rechnen können. Er war auffallend und ungewöhnlich kundig über die fahrdynamischen und unfallmechanischen Vorgänge im Falle einer Abbremsung eines Fahrzeuges durch Ziehen der Handbremse war. So fragte er den Sachverständigen mit bemerkenswertem Detailwissen nach dem zu erwartenden Höhenversatz bei einer Abbremsung der Hinterachse mittels der Handbremse, wobei er jedoch – mit seinen Kenntnissen nicht kompatibel – gänzlich ignorierte, daß durch das Einlegen eines niedrigen Ganges auch die Vorderräder abgebremst würden. Zudem erscheint ein solches Fahrmanöver und -verhalten im Speziellen dem Kläger nach dem Gesamteindruck ebenso wenig wesensfremd zu sein, wie das ungehemmte Ausleben von Abneigungen im öffentlichen Straßenverkehr im Allgemeinen. Dafür daß diese Geschehensvariante des provozierten Auffahrunfalls nicht fernliegend ist, spricht darüber hinaus, daß ein typischer Auffahrunfall wenig plausibel erscheint. Der Fahrer oder die Fahrerin des Beklagtenfahrzeuges verfolgte das Klägerfahrzeug erst seit wenigen Augenblicken und hatte daher die volle Aufmerksamkeit auf dieses Fahrzeug gerichtet. Ein Auffahren auf dieses Fahrzeug, wenn es lediglich durch Gaswegnehmen verzögert worden wäre, erscheint nachgerade fernliegend.

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Volkan Özkara
Rechtsanwalt

Mail: koeln@etl-rechtsanwaelte.de


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