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Muss der Arbeitgeber die Arbeitszeit aller Arbeitnehmer erfassen?

Wenn der Gesetzgeber tatenlos bleibt und nur ein ostfriesisches Gericht Arbeitnehmern zur Seite steht
Frage des Tages
10.02.2021

Muss der Arbeitgeber die Arbeitszeit aller Arbeitnehmer erfassen?

Wenn der Gesetzgeber tatenlos bleibt und nur ein ostfriesisches Gericht Arbeitnehmern zur Seite steht

Um die in der Überschrift gestellte Frage kurz und knapp zu beantworten: Nein, das muss der Arbeitgeber nicht. So jedenfalls die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland. Danach besteht nur für ausgewählte Branchen und für alle geringfügig Beschäftigten (auch Minijobber genannt) eine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Zu erfassen sind dann der Anfang, das Ende und die Gesamtdauer der täglichen Arbeitszeit. Und zwar minutengenau. Eine Rundung, etwa auf 15 Minuten, darf es nur zugunsten, aber nicht zu Ungunsten der betroffenen Arbeitnehmer geben. Soweit, so gut.

Nun gibt es schon seit dem Jahr 2019, genauer seit Mai 2019, eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), wonach die Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichtet sind, Regeln zu schaffen, die eine systematische Erfassung der durch die Arbeitnehmer in der EU geleisteten Arbeitsstunden ermöglichen. Der seinerzeit entschiedene Fall betraf zwar einen solchen aus Spanien. Die durch den EuGH gefällte Entscheidung gilt aber für alle EU-Mitgliedsländer, also auch für Deutschland. Und was ist seit Mai 2019 in Deutschland geschehen? Nichts! Rein gar nichts. Jedenfalls nicht auf Seiten des Gesetzgebers. Lediglich ein kleines Arbeitsgericht in Ostfriesland hat bislang reagiert. Das Arbeitsgericht Emden stellt sich auf die Seite betroffener Arbeitnehmer und meint, das Urteil des EuGH führe zu einer unmittelbaren Änderung des Rechts in Deutschland. Das habe unter anderem zur Folge, dass Arbeitgeber im Streit um angeblich durch den Arbeitnehmer geleistete Überstunden nunmehr vor erhebliche Beweisschwierigkeiten gestellt werden müssten. In einem durch das Arbeitsgericht Emden entschiedenen Fall führte das zu einem Zahlungsanspruch des klagenden Arbeitnehmers von gut 20.000,00 EUR für tatsächlich oder auch nur vermeintlich geleistete Überstunden.

Warum der Gesetzgeber in Deutschland bislang nicht reagiert und die vom EuGH geforderte Regelung einer Arbeitszeiterfassung nicht geschaffen hat, ist nicht erklärbar. An Corona kann es nicht liegen. Denn der Gesetzgeber arbeitet derzeit ständig an neuen Gesetzen. Da kann es auf eine geringfügige Anpassung des Arbeitszeitgesetzes nicht ankommen. Vermutlich sind sich die Parteien der Großen Koalition nicht einig. An der SPD dürfte ein reformiertes Recht kaum scheitern. Fehlende Einigkeit der Regierungsparteien ist aber unter keinen Umständen ein legitimer Grund, dem EuGH die Gefolgschaft zu verweigern. An der Europafreundlichkeit deutscher Politik bestehen erhebliche Zweifel.

Und jetzt? Das bleibt abzuwarten. Wenn sich weitere Gerichte auf die Seite des Arbeitsgerichts Emden stellen, kommt es nicht darauf an, ob der deutsche Gesetzgeber die Vorgaben des EuGH umsetzt oder nicht. Wenn das nicht der Fall sein sollte, und das ist sehr wahrscheinlich, bleibt erst einmal alles beim Alten. Die durch unbezahlte Überstunden betroffenen Arbeitnehmer stehen dann weiter ohne Unterstützung durch den Gesetzgeber da.

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Autor(en)


Dr. Uwe P. Schlegel
Rechtsanwalt

Mail: koeln@etl-rechtsanwaelte.de


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