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Wann spricht man von einem Handelsgewerbe im Sinne von § 1 HGB?

Frage des Tages
27.05.2022

Wann spricht man von einem Handelsgewerbe im Sinne von § 1 HGB?

Die Frage spielt für die Praxis eine große Rolle. Die Antwort kann unter anderem darüber entscheiden, ob es sich bei einer Personengesellschaft um eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) oder eine offene Handelsgesellschaft (OHG) handelt.

Siehe dazu etwa OLG München, Urt. v. 19.01.2022 – 7 U 3250/20:

„Nach der gesetzlichen Definition ist Handelsgewerbe ein Gewerbe, welches nach Art und Umfang eine kaufmännische Einrichtung erfordert. Dies ist auf der Basis einer Gesamtschau der den Betrieb kennzeichnenden Umstände zu beurteilen (BGH, Urteil vom 28.4.1960 – II ZR 239/58 Ls. 2; Urteil vom 16.11.1965 – V ZR 89/63, Rz. 13). Als zu berücksichtigende Kriterien nennt die erstere Entscheidung Beschäftigtenzahl, Tätigkeitsart, Umsatz, Anlagekapital, Betriebskapital, Leistungsvielfalt, Zahl der Geschäftsbeziehungen, Kreditaufnahme; in der zweitgenannten Entscheidung sind beispielhaft aufgeführt Umsatz, Verbindlichkeiten, Außenstände, Aktivvermögen. In der Kommentarliteratur (z.B. Kindler, in: Ebenroth / Boujong, HGB, 4. Aufl., § 1 Rz. 56 ff.) finden sich ähnliche Aufzählungen (Handelsbücher, Inventar- und Bilanzerrichtung, Aufbewahrung der Korrespondenz, Firmenführung, kaufmännisch vorgebildetes Personal, Lohnbuchhaltung, Vielfalt der Erzeugnisse und Leistungen, Teilnahme am Frachtverkehr, grenzüberschreitende Tätigkeit, Sach- und Personalkredite).“

Weiter heißt es zu dem konkreten Fall in den Entscheidungsgründen:

„2. Hinsichtlich der somit für die Abgrenzung von GbR und OHG wesentlichen Kriterien bietet sich vorliegend auf der Basis des Parteivortrags das folgende Bild.

a) Umsatz

Die (unstreitigen) Umsatzzahlen für die Geschäftsjahre 2016 – 2019 referiert die Klagepartei in der Berufungserwiderung (dort S. 8). Die Zahlen für 2020 und 2021 (bis einschließlich November) werden im Schriftsatz vom 10.1.2022 (Bl. 198 ff. der Akten, dort S. 4) nachgetragen. Hiernach hat die Gesellschaft ab 2016 Umsätze über 100.000,- € erzielt, das Maximum lag im Jahr 2019 mit rund 163.000,- €, woraufhin 2020 ein (wohl pandemiebedingter) Rückgang auf rund 103.000,- € und eine allmähliche Erholung im Jahr 2021 (bis einschließlich November rund 125.000,- €) erfolgten.

Diese Zahlen führen für sich betrachtet allenfalls in den Grenzbereich zu einem kaufmännischen Gewerbe. Neuere veröffentlichte Rechtsprechung hierzu gibt es nicht. Die Kommentarliteratur (z.B. Kindler a.a.O. Rz. 52) nennt eine Grenze von 250.000,- €, ab der spätestens von einem Handelsgewerbe auszugehen sei. Hiervon war die gegenständliche Gesellschaft auch in besten Zeiten weit entfernt.

b) Buchführung

Unstreitig wurde die Gesellschaft durch Bescheid des zuständigen Finanzamts zur Buchführung verpflichtet (vgl. Anlage K 14) und kommt dieser Verpflichtung seither nach. Die Führung von Steuerbüchern oder die Beauftragung eines Steuerberaters sind jedoch keine Indizien für ein Handelsgewerbe (Kindler a.a.O. Rz. 47 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung). Die Richtigkeit dieser Auffassung zeigt der vorliegende Fall exemplarisch. Die Anordnung der Buchführungspflicht erfolgte ausweislich des Bescheides des Finanzamtes unter Bezugnahme auf § 141 Abs. 1 Nr. 4 AO, weil der Gewinn im Jahr 2016 höher als 60.000,- € war. Die in Bezug genommene Norm gilt ausweislich ihres Wortlauts nur, wenn nicht ohnehin Bücher nach § 140 AO zu führen sind, was unter anderem für die OHG der Fall ist.

Aus der Tatsache, dass aufgrund einer Anordnung der Finanzbehörden Bücher geführt werden, kann daher ein Argument weder für noch gegen das Vorliegen eines Handelsgewerbes gewonnen werden.

c) Personal

Unstreitig werden die anfallenden Tätigkeiten für die Gesellschaft hauptsächlich durch die Gesellschafter selbst bestritten. Dass diese studierte Wirtschaftswissenschaftler sind, besagt insoweit nichts über die Art ihrer Tätigkeit, die im wesentlichen aus der Entgegennahme und Betreuung von Buchungen sowie gegebenenfalls Vermittlung von Drittleistungen (Caterer u.ä.) bestanden zu haben scheint – was nicht unbedingt eine kaufmännische Vorbildung voraussetzt.

Abgesehen von ihren Gesellschaftern verfügte die Gesellschaft nicht über festes Personal. In den im Anlagenkonvolut B 1 enthaltenen Jahresübersichten aus der Buchhaltung der Gesellschaft werden als monatliche bzw. jährliche Personalkosten durchgängig 0,00 € angegeben. In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat haben die Parteien dies dahin erläutert, dass man im Bedarfsfall (wenn also z.B. die Mieter der K. Service bei Tisch wünschten) mit Personaldienstleistern zusammen gearbeitet und die diesbezüglichen Kosten den Kunden weiterverrechnet habe.

Der Gesichtspunkt Personalausstattung spricht daher eindeutig gegen das Erfordernis kaufmännischer Einrichtung; insbesondere eine „Lohnbuchhaltung“ war unter den dargestellten Umständen nicht erforderlich.

d) Kapitalstruktur

Aus den Übersichten aus der Buchhaltung der Beklagten gemäß Anlagenkonvolut B 1 ergibt sich, dass die Zinsaufwendungen in den Jahren 2017 – 2020 jeweils 0,- € betrugen. Das bedeutet, dass die Gesellschaft jedenfalls in diesem Zeitraum ohne Fremdkapital arbeitete; nur in der Anfangszeit der Gesellschaft wurde nach der Erläuterung der Parteien in der mündlichen Verhandlung ein Darlehen in Anspruch genommen. Die Nichtinanspruchnahme von professionellem Fremdkapital (Bankdarlehen) ist nach der Erfahrung des seit vielen Jahren im Handels- und Gesellschaftsrecht tätigen Senats höchst untypisch für ein kaufmännisches Unternehmen.

Auch das Anlagevermögen der Gesellschaft stellt sich nach Aktenlage höchst überschaubar dar. In der (im zeitgleich verhandelten Parallelverfahren 7 U 2659/20 dem Senat als dortige Anlage BB 2 bekannt gewordenen) Aufstellung aus der Buchhaltung der Gesellschaft sind nur eine Geschirrspülmaschine, ein Laubbläser, ein PKW und ein „Sammelposten“ im Wert von (Ende 2018) 891,- € aufgeführt. Hierfür ist keine kaufmännische Einrichtung erforderlich.

e) Lagerhaltung

Aus den Kosten für den Wareneinkauf gemäß den genannten Jahresübersichten in Anlagenkonvolut B 1, die sich in den meisten Monaten nur im dreistelligen, selten im vierstelligen Bereich bewegen, kann auf den Umfang der für den Betrieb der Gesellschaft erforderlichen Lagerhaltung geschlossen werden; denn es konnte schlechterdings nicht mehr an Waren gelagert worden sein, als bezogen wurde. Im Hinblick auf den unstreitigen Befund, dass die Kunden der Gesellschaft zwar Getränke von ihr beziehen konnten, die Verköstigung mit Speisen aber über Catering-Dienste erfolgte, dürfte sich die Lagerhaltung somit auf jeweils eine Reihe von Getränketrägern beschränkt haben. Auch für die Verwaltung eines solchen Getränkebestandes erscheint keine kaufmännische Einrichtung erforderlich. – Damit dürfte sich auch die Teilnahme der Gesellschaft am Frachtverkehr auf die regelmäßige Anlieferung von Getränken beschränkt haben.

f) Vielfalt des Angebots

Kernangebot der Gesellschaft war die Zurverfügungstellung von Räumen in der Klause, wobei die Möglichkeit des Bezugs von Getränken bestand. Weitere Leistungen (Catering, Shuttle-Service, Kurse) wurden nicht von der Gesellschaft erbracht, sondern konnten extern (ggf. unter Vermittlung der Gesellschaft) zugebucht werden. Das Leistungsangebot der Gesellschaft stellte sich daher nicht als vielfältig, sondern als recht überschaubar dar, was eher gegen das Erfordernis einer kaufmännischen Einrichtung spricht.

g) Werbung

Die vorgelegten Übersichten gemäß Anlagenkonvolut B 1 weisen an Kosten für Werbung meist nur zweistellige Beträge auf. Hieraus kann das Erfordernis kaufmännischer Einrichtung nicht begründet werden. Die behauptete „umfängliche Kooperation mit Werbeagenturen“ schlägt sich jedenfalls in den vorgelegten Unternehmenszahlen nicht nieder.

Wenn sich die Klagepartei dem gegenüber auf die umfängliche Präsenz der Gesellschaft im Internet beruft, vermag dies kein anderes Ergebnis zu begründen. Denn für einen Internetauftritt benötigt man nur PC und Internetzugang, die als solche sicherlich kein Indiz für eine kaufmännische Einrichtung sind; zwar mag heutzutage jeder Kaufmann im Internet präsent sein, aber die Präsenz als solche lässt keinen Rückschluss auf die Kaufmannseigenschaft zu.

h) Kundenanzahl

Nicht bestritten ist der klägerische Vortrag, dass die Gesellschaft seit ihrer Gründung 706 Kundennummern vergeben hat und dass sich darunter auch namhafte Firmen wie D., A., B. und T. befinden. Die Kundenanzahl als solche mag daher eher für das Erfordernis kaufmännischer Einrichtung sprechen. Dieser Befund wird allerdings relativiert, wenn man die Kundenzahl auf die Dauer der Existenz der Gesellschaft umlegt; auch ist nicht ersichtlich (jedenfalls nicht vorgetragen), dass es sich bei den vergebenen Kundennummern mehrheitlich um „Stammkunden“, die die Klause regelmäßig buchen, handelt.

Ferner ist zu sehen, dass das Geschäftsmodell der Gesellschaft in der Vermietung der K. für Veranstaltungen besteht, was bedingt, dass in der Regel immer nur ein Kunde pro Zeiteinheit (Tag, Wochenende, Woche) bedient werden kann. Auch dieser für ein kaufmännisches Gewerbe eher untypische Befund relativiert die nackte Anzahl von Kunden.

i) Professionelle Struktur

Ein schriftlicher Gesellschaftsvertrag existiert nicht. Ausdrückliche Regelungen über die Vertretungsmacht wurden nicht getroffen (wohl aber konkludente Vereinbarung von Einzelvertretungsmacht durch stillschweigende Handhabung, vgl. näher Senatsurteil vom 19.1.2022 im Parallelverfahren 7 U 2659/20, unter B.I.2.). Prokuristen oder sonstige Bevollmächtigte wurden nicht bestellt. Auch dies ist untypisch für ein kaufmännisches Unternehmen.

  1. In der Gesamtschau dieser Umstände ist der Senat davon überzeugt, dass der Betrieb der Gesellschaft keine kaufmännische Einrichtung erfordert. Die Vermutung für das Vorliegen eines Handelsgewerbes ist damit widerlegt.

Die Kundenanzahl und die Umsatzzahlen führen aus den dargestellten Gründen allenfalls in den Grenzbereich zum Handelsgewerbe; die Buchführungspflicht aus steuerlichen Gründen ist nichtssagend. Dem gegenüber sprechen insbesondere die Kapitalstruktur, das Fehlen von fest angestellten Arbeitnehmern und das überschaubare Angebot der Gesellschaft eindeutig gegen das Erfordernis kaufmännischer Einrichtung. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, dass die Gesellschafter ihren Geschäftsbetrieb bewusst schlank halten und möglichst viel in Eigenregie bzw. durch Fremddienstleister erledigen wollten und dies auch entsprechend umgesetzt haben; in diese Richtung deutet letztlich auch die Kostenstruktur; angesichts der a.a.O. mit den Umsatzzahlen mitgeteilten Jahresgewinne (die sich in der Größenordnung zwischen 40 und 78% bewegen) kann der betriebliche Aufwand nur als überschaubar bezeichnet werden. Insgesamt bietet die Gesellschaft daher nicht das Erscheinungsbild eines kaufmännischen Gewerbes.“

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Jörg Hahn
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht

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Dr. Uwe P. Schlegel
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