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Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und ärztliche Zeugenaussage im Kündigungsfall

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und ärztliche Zeugenaussage im Kündigungsfall
Aktuelles
13.11.2024 — Lesezeit: 4 Minuten

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und ärztliche Zeugenaussage im Kündigungsfall

Das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin (v. 19.3.2024 – 22 Ca 8667/23) bietet eine wegweisende Perspektive für Arbeitgeber im Umgang mit Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, insbesondere in Fällen, in denen der Verdacht besteht, dass die nachgewiesene Arbeitsunfähigkeit missbräuchlich zur Vermeidung der Arbeitspflicht genutzt wird . Die Entscheidung wirft kritische Fragen hinsichtlich der Bedeutung und des Beweiswerts ärztlicher Bescheinigungen auf und zeigt, unter welchen Voraussetzungen die Vernehmung des behandelnden Arztes als Zeugen geboten sein kann.

Sachverhalt

Das Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 19. März 2024 (Az.: 22 Ca 8667/23) bezieht sich auf den Fall einer Reinigungskraft, die während ihrer Kündigungsfrist krankheitsbedingt ausfällt. Der Arbeitgeber hatte Zweifel an der Gültigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, da die Klägerin kurz zuvor Urlaub beantragt hatte, um ihre Familie zu besuchen, die jedoch abgelehnt worden war. Direkt nach dieser Warnung meldete sie sich krank und legte eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 22. Mai bis zum 15. Juni 2023 vor.

Ausgangspunkt: Der hohe Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung

Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) besteht ein hoher Beweiswert für die Richtigkeit einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Das Gericht stellte klar, dass diese grundsätzlich nur erschüttert werden kann, wenn der Arbeitgeber substantielle Zweifel an der Bescheinigung nachweisen kann. In dem zugrunde liegenden Fall behauptete der Arbeitgeber aufgrund der zeitlichen Nähe zwischen der Kündigung und der Erkrankungsmeldung der Arbeitnehmerin berechtigte Zweifel an der Authentizität der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.

Im Urteil wurde der Klägerin der Zahlungsanspruch zugesprochen, da das Gericht nach der Vernehmung des Arztes von einer echten Arbeitsunfähigkeit (aufgrund einer Erschöpfungsdepression) überzeugt war.

Beweisführung durch Zeugenaussage des behandelnden Arztes

Das Urteil eröffnet Arbeitgebern die Möglichkeit, den behandelnden Arzt als sachverständige Zeugen durch das Arbeitsgericht vernehmen zu lassen, um Zweifel an der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu untermauern oder zu entkräften. Damit ist der Arzt als zentrale Informationsquelle anzusehen, um die Plausibilität und die medizinische Notwendigkeit der attestierten Arbeitsunfähigkeit objektiv einzuschätzen. Es ist jedoch zu beachten, dass das Gericht an der Grundannahme festhält, dass ordnungsgemäß ausgestellten Bescheinigungen zunächst ein hoher Beweiswert zukommt.

Diese Zeugenvernehmung kann insbesondere dann relevant sein, wenn Zweifel am medizinischen Befund bestehen, etwa wenn der Arbeitsunfähigkeitszeitraum unüblich lang erscheint oder die Bescheinigung auf eine Diagnose ohne erkennbare Zusammenhänge zur tatsächlichen Tätigkeit verweist. Das Gericht führt aus, dass eine solche Vernehmung darauf abzielen muss, festzustellen, dass die Untersuchung durch den Arzt im Einklang mit der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses steht.

Maßstäbe der Beweisführung: Anforderungen an ärztliche Diagnosen

Das Gericht legt im Urteil drei Faktoren fest, die für die richterliche Überzeugungsbildung im Zusammenhang mit der Zeugenvernehmung des Arztes maßgeblich sind:

  1. Persönliche Untersuchung: Das Gericht erwartet, dass die Arbeitsunfähigkeit auf einer unmittelbaren persönlichen Untersuchung des Arbeitnehmers beruht. Eine kurze, aber zielgerichtete Untersuchung, um den aktuellen Gesundheitszustand zuverlässig zu beurteilen.
  2. Berücksichtigung des individuellen Arbeitsprofils: Ein sachverständiger Arzt muss den körperlichen und psychischen Gesundheitszustand des Arbeitnehmers im Kontext der spezifischen Anforderungen seiner Tätigkeit berücksichtigen. Es ist entscheidend, dass der Arzt die Besonderheiten der ausgeübten Tätigkeit in die Diagnose einbezieht.
  3. Ernsthaftigkeit der Diagnose: Das Gericht verlangt hinreichende Gewissheit, dass die festgestellte Erkrankung tatsächlich zu einer Arbeitsunfähigkeit führt. Der Arzt muss die spezifische Belastung und die Anforderungen der Tätigkeit in seine Beurteilung einbeziehen, um die Kausalität der Diagnose für die Arbeitsunfähigkeit zu bestätigen.

Praktische Anwendungen und Ausblick für Arbeitgeber

Das Urteil stellt eine wichtige Weiterentwicklung in der Rechtsprechung zu Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen dar und könnte langfristig zu einer stärkeren Sensibilisierung bei Arbeitnehmern führen. Arbeitgeber werden zunehmend in die Lage versetzt, Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen kritisch zu Hinterfragen und die Aussage des behandelnden Arztes als zentrales Beweismittel heranzuziehen, ohne die grundsätzliche ärztliche Unabhängigkeit zu beeinträchtigen. Hierdurch könnten präventive Maßnahmen entwickelt werden, um ungerechtfertigten Fehlzeiten entgegenzuwirken und die Effizienz des Unternehmens zu steigern.

Arbeitgeber, die den Verdacht auf Gefälligkeitsbescheinigungen haben, können künftig vermehrt auf eine Zeugenvernehmung des behandelnden Arztes setzen. Dies gilt jedoch nur, wenn fundierte Zweifel an der Diagnose bestehen und der Arbeitgeber diese hinreichend substantiiert darlegen kann.

Für die Praxis könnte dies einen erheblichen Wandel im Umgang mit Krankheit und Arbeitsunfähigkeit nach sich ziehen: Arbeitgeber sollten verstärkt dokumentieren, wenn Verdachtsmomente bestehen, und sich gegebenenfalls rechtzeitig anwaltlich beraten lassen. Es ist ratsam, klare Regelungen zur Melde- und Nachweispflicht bei krankheitsbedingtem Fehlen zu etablieren, um den Ablauf im Falle von Zweifeln an der Arbeitsunfähigkeit zu optimieren.

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Aigerim Rachimow
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Arbeitsrecht, Fachanwältin für Medizinrecht

Mail: rostock@etl-rechtsanwaelte.de


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