Urlaub auf Krankenschein - Neues zum Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Mit seiner Entscheidung vom 8. September 2021 zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung habe das BAG eine Kehrtwende in der einschlägigen Rechtsprechung eingeleitet – so oder so ähnlich lesen sich viele Kommentare zu den jüngsten obergerichtlichen Entscheidungen zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (AUB). Aber ist das auch so? Hier eine Auswahl von Urteilen, die der Entscheidung des BAG v. 8. September 2021 vorausgegangen sind:
Fortsetzungserkrankung
Das BAG hat im Jahr 2005 unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung klargestellt, dass einem Arbeitgeber zur Erschütterung des Beweiswertes der AUB Erleichterungen der Darlegungs- und Beweislast zuzubilligen sind, wenn er sich auf eine Fortsetzungserkrankung des Arbeitnehmers gem. § 3 I 2 EFZG beruft. Soweit nach seinem Vortrag dieselbe Krankheit ursächlich für die erneute Arbeitsunfähigkeit ist, hat der Arbeitgeber aufgrund seiner fehlenden Kenntnis der Krankheitsursachen nämlich nur beschränkte Möglichkeiten zum Vortragen von Indiztatsachen (BAG, Urt. v. 13.07.2005 – 5 AZR 389/04).
Androhung einer Erkrankung bei Nichtgewährung von Urlaub
Zuvor hatte das BAG bereits geurteilt, dass die Ankündigung einer zukünftigen, im Zeitpunkt der Äußerung noch nicht bestehenden Erkrankung durch den Arbeitnehmer für den Fall, dass der Arbeitgeber einem Verlangen auf Gewährung zusätzlichen bezahlten oder unbezahlten Urlaubs nicht entsprechen sollte, ohne Rücksicht auf die später tatsächlich auftretende Krankheit an sich als wichtiger Grund für eine außerordentliche Kündigung geeignet ist. Dabei kann es ausreichend sein, dass die Drohung mit der Erkrankung nicht unmittelbar erfolgt, sondern im Zusammenhang mit dem Urlaubswunsch gestellt wird, und ein verständiger Dritter dies als deutlichen Hinweis werten kann, bei Nichtgewährung des Urlaubs werde eine Krankschreibung erfolgen. Mit dieser Entscheidung (Urt. v. 17.06.2003 – 2 AZR 123/02) hat das BAG seine bisherige Rechtsprechung fortgeführt und wegen der Verhaltensweise des Arbeitnehmers Zweifel an seiner Arbeitsunfähigkeit als begründet angesehen.
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ohne vorausgegangene Untersuchung
Eine – an sich selbstverständliche – Fallgruppe der Beeinträchtigung des Beweiswertes einer AU-Bescheinigung hat das BAG bereits im Jahr 1976 aufgestellt:
„Der Beweiswert einer ärztlichen Bescheinigung wird dadurch beeinträchtigt, dass der Arzt diese Bescheinigung ohne voraufgegangene Untersuchung ausstellt“ (BAG, Urt. v. 11.08.1976 – 5 AZR 422/75). Diese Rechtsprechung ist auch dann anzuwenden, wenn die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit bei Versicherten mit Erkrankungen der oberen Atemwege, die keine schwere Symptomatik vorweisen, für einen Zeitraum von bis zu sieben Kalendertagen auch nach telefonischer Anamnese und zwar im Wege der persönlichen ärztlichen Überzeugung vom Zustand der oder des Versicherten durch eingehende telefonische Befragung erfolgen darf (ArbG Berlin, Urt. v. 01.04.2021 – 42 Ca 16289/20).
Rückdatierung einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
Der Beweiswert einer AUB ist in Fällen der Rückdatierung der AUB erschüttert, wenn der Arzt den Beginn der Arbeitsunfähigkeit rückwirkend um mehr als zwei Tage feststellt hat (LAG Köln, Urt. v. 21.11.2003 – 4 Sa 588/03; LAG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 13.01.2015 – 8 Sa 373/14).
Arbeitsunfähigkeit im Voraus
Gleiches gilt auch für eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung die in Abweichung von der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL) eine Arbeitsunfähigkeit für einen Zeitraum bescheinigt, der mehr als zwei Wochen im Voraus liegt. Nur wenn es aufgrund der Erkrankung oder eines besonderen Krankheitsverlaufs sachgerecht ist, kann eine AUB gem. § 5 IV 2 AU-RL bis zur voraussichtlichen Dauer von einem Monat bescheinigt werden. Die AU-RL wurde vom Gemeinsamen Bundesausschuss beschlossen. Mitglieder dieses Bundesausschusses sind die vier großen Selbstverwaltungsorganisationen im deutschen Gesundheitssystem Kassenärztliche Bundesvereinigung, Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung, Deutsche Krankenhausgesellschaft und der GKV-Spitzenverband. Nach § 2 VIII SGB V sind Richtlinien des G-BA Bestandteil der Bundesmantelverträge. Sie binden Versicherte und Vertragsärzte unmittelbar und entfalten normgleiche Verbindlichkeit. Abweichungen von den Vorgaben der AU-RL können bereits eine Erschütterung des Beweiswerts einer AUB zur Folge haben (BSG, Urt. v. 20.03.1996 – 6 RKa 62/94; siehe auch BAG, Urt. v. 28.06.2023 – 5 AZR 335/22).
Verhaltensweisen des Arbeitnehmers
Merkwürdige Verhaltensweisen eines Arbeitnehmers im Zusammenhang mit seiner Krankschreibung waren nach der bisherigen Rechtsprechung schon oft Anlass für berechtigte Zweifel an seiner Arbeitsunfähigkeit. So entschied zum Beispiel das LAG Niedersachsen, dass begründete Zweifel an einer AUB dann vorliegen, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis kündigt, seine persönlichen Gegenstände ca. sechs Wochen vor Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist nach einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber an seinem letzten tatsächlichen Arbeitstag aus dem Betrieb mitnimmt und sich drei aufeinanderfolgende Erstbescheinigungen von zwei unterschiedlichen Ärzten ausstellen lässt (LAG Niedersachsen, Urt. v. 07.05.2007 – 6 Sa 1045/05).