Kein Überstundenzuschlag für Teilzeitkräfte? – Warum diese Praxis gegen das Diskriminierungsverbot verstößt
Viele tarifgebundene Unternehmen gewähren Überstundenzuschläge erst dann, wenn die tarifliche Wochenarbeitszeit einer Vollzeitkraft überschritten wird – häufig 38 oder 40 Stunden. Für Teilzeitkräfte bedeutet das oft: Sie leisten Überstunden, erhalten jedoch keinen Zuschlag. Das Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg hat dieser Praxis nun in einer aktuellen Entscheidung eine klare Absage erteilt (Urteil vom 16.05.2025 – 12 Sa 1016/24) und eine tarifliche Regelung im Einzelhandel Brandenburg als diskriminierend eingestuft. Arbeitgeber sollten diese Entscheidung ernst nehmen, da sie erhebliche Folgen für die Entgeltstruktur haben kann.
Der Fall: Teilzeit – gleiche Arbeit, weniger Zuschlag
Die Klägerin war im Verkauf tätig und arbeitete in Teilzeit. In einem Zeitraum von sechs Monaten leistete sie 62 Überstunden, ohne jedoch in einer einzelnen Woche die tarifvertragliche Wochenarbeitszeit von 38 Stunden zu überschreiten – die Grenze für den Überstundenzuschlag laut Manteltarifvertrag. Der Arbeitgeber verweigerte deshalb die Zahlung eines Zuschlags, obwohl sie regelmäßig über ihre individuelle Arbeitszeit hinaus tätig war.
Entscheidung des Gerichts: Ungleichbehandlung ohne sachlichen Grund
Das LAG Berlin-Brandenburg stellte klar: Eine tarifliche Regelung, die Überstundenzuschläge ausschließlich an die Überschreitung der Vollzeitarbeitsgrenze knüpft, benachteiligt Teilzeitbeschäftigte unmittelbar (§ 4 Abs. 1 TzBfG i.V.m. § 7 Abs. 1 AGG). Diese arbeitszeitbezogene Schlechterstellung ist nicht gerechtfertigt, wenn die Mehrarbeit über die vertraglich vereinbarte Teilzeit hinausgeht, aber unterhalb der Vollzeitgrenze bleibt.
Das Gericht betont, dass kein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung besteht, insbesondere kein arbeitsschutzrechtlicher. Denn der Tarifvertrag stelle allein auf die tarifliche Regelarbeitszeit ab, nicht auf die gesetzlichen Grenzen des Arbeitszeitgesetzes (§ 3 ArbZG).
Rechtsfolge: Zuschläge auch für Teilzeitüberstunden
Im Ergebnis muss der Arbeitgeber der Teilzeitkraft den Zuschlag ab der ersten Stunde oberhalb der individuellen Wochenarbeitszeit zahlen. Das LAG wendet damit den Grundsatz der „Anpassung nach oben“ an – Teilzeitkräfte sind so zu behandeln, als würden sie hinsichtlich der Zuschlagsgrenzen wie Vollzeitkräfte behandelt, jedoch relativ zu ihrer vertraglichen Arbeitszeit.
Diese Rechtsprechung stützt sich auch auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschluss v. 11.12.2024 – 1 BvR 1109/21), das klare Anforderungen an eine tarifvertragliche Gleichbehandlung stellt. Zwar betont das BVerfG die vorrangige Verantwortung der Tarifvertragsparteien zur Nachbesserung, dies hindert die Gerichte aber nicht daran, bei klarer Diskriminierung unmittelbar zu korrigieren – zumindest solange Rechtsmittel gegen die Entscheidung offenstehen, wie im vorliegenden Fall.
Praxishinweis für Arbeitgeber und Unternehmen
Diese Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen auf die Entgeltstruktur und Personalplanung, insbesondere in Branchen mit hoher Teilzeitquote wie Einzelhandel, Pflege oder Gastronomie:
- Tarifverträge sollten dringend auf versteckte Diskriminierungen geprüft werden.
- Überstundenmodelle müssen individuell angepasst werden – nicht nur an die Vollzeitnorm, sondern auch an die vertragliche Arbeitszeit.
- Auch betriebsinterne Regelungen (z. B. Betriebsvereinbarungen oder Regelungsabreden) sollten überprüft werden, um Risiken von Nachzahlungsansprüchen zu vermeiden.
Fazit: Diskriminierungsfreie Zuschlagsregelung ist Pflicht
Tarifliche oder vertragliche Regelungen, die Teilzeitbeschäftigte beim Überstundenzuschlag schlechterstellen, verstoßen gegen das Diskriminierungsverbot nach dem Teilzeit- und Befristungsgesetz. Die Entscheidung des LAG Berlin-Brandenburg schafft mit Blick auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes (BAG 8 AZR 370/20; BAG 8 AZR 372/20) und des EuGH (EuGH C-184/22 und C-185/22) hinsichtlich des Anspruchs auf „Überstunden-bzw. Mehrarbeitszuschläge für Teilzeitbeschäftigte“ erneut Klarheit.
Arbeitgeber sollten ihre Praxis anpassen, um rechtssichere und faire Arbeitsbedingungen zu gewährleisten. Die Revision beim Bundesarbeitsgericht ist anhängig. Bis zur endgültigen Entscheidung empfiehlt sich eine vorsorgliche Korrektur im Sinne der Gleichbehandlung.
Arbeitnehmer müssen entsprechende Vergütungsansprüche mit Blick auf die Ausschlussfristen rechtzeitig geltend machen.