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Wer auffährt hat (meistens) schuld!

Wer auffährt hat (meistens) schuld!
Aktuelles
29.07.2022

Wer auffährt hat (meistens) schuld!

Das Oberlandesgericht (OLG) München hatte sich mit einem Auffahrunfall im Straßenverkehr, genauer auf einer Autobahn, zu beschäftigen (OLG München, Urt. v. 09.02.2022 – 10 U 1962/21). Das Gericht bestätigt die allgemeine Rechtsauffassung, wonach bei Auffahrunfällen der erste Anschein dafür sprechen kann, das der Auffahrende den Unfall schuldhaft verursacht hat und demzufolge regelmäßig den entstandenen Schaden vollen Umfanges ausgleichen muss.

In den Entscheidungsgründen heißt es:

„In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass bei Auffahrunfällen, auch wenn sie sich auf Autobahnen ereignen, der erste Anschein dafür sprechen kann, dass der Auffahrende den Unfall schuldhaft dadurch verursacht hat, dass er entweder den erforderlichen Sicherheitsabstand nicht eingehalten hat (§ 4 Abs. 1 StVO), unaufmerksam war (§ 1 StVO) oder aber mit einer den Straßen- und Sichtverhältnissen unangepassten Geschwindigkeit gefahren ist (§ 3 Abs. 1 StVO; BGH, VersR 2017, 374, m.w.N.; Senat, Urteil vom 25. Oktober 2013 – 10 U 964/13 -, Rn. 6, juris).

Die Anwendung des Anscheinsbeweises setzt jedoch auch bei Verkehrsunfällen Geschehensabläufe voraus, bei denen sich nach der allgemeinen Lebenserfahrung der Schluss aufdrängt, dass ein Verkehrsteilnehmer seine Pflicht zur Beachtung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt verletzt hat; es muss sich um Tatbestände handeln, für die nach der Lebenserfahrung eine schuldhafte Verursachung typisch ist´ (BGH VersR 2012, 248, 249 mit Verweis auf BGH, VersR 1959, 518 [519] = BeckRS 2009, 05520; NJW-RR 1986, 383 = VersR 1986, 343 [344]; NJW 1996, 1828 = VersR 1996, 772; NJW 2008, 809 = VersR 2007, 557 Rn. 5; NJW 2011, 685 = VersR 2011, 234 Rn. 7). Bei Auffahrunfällen kann der erste Anschein für ein Verschulden des Auffahrenden sprechen (vgl. BGH, VersR 2012, 248, 249; BGH, NJW 2011, 685 = VersR 2011, 234 Rn. 7 m. w. Nachw.). Es ist aber grundsätzlich Zurückhaltung bei der Anwendung des Anscheinsbeweises geboten, ´weil er es erlaubt, bei typischen Geschehensabläufen auf Grund allgemeiner Erfahrungssätze auf einen ursächlichen Zusammenhang oder ein schuldhaftes Verhalten zu schließen, ohne dass im konkreten Fall die Ursache bzw. das Verschulden festgestellt ist´ (BGH VersR 2012, 248, 249 m.w.N.). Das ´Kerngeschehen´ – hier: Auffahrunfall – reicht daher für die Annahme eines Anscheinsbeweises nicht aus, wenn weitere Umstände des Unfallereignisses bekannt sind, die als Besonderheiten gegen die bei derartigen Fallgestaltungen gegebene Typizität sprechen (vgl. BGH VersR 2012, 248, 249). ´Denn es muss das gesamte feststehende Unfallgeschehen nach der Lebenserfahrung typisch dafür sein, dass derjenige Verkehrsteilnehmer, zu dessen Lasten im Rahmen des Unfallereignisses der Anscheinsbeweis Anwendung finden soll, schuldhaft gehandelt hat. Ob der Sachverhalt in diesem Sinne im Einzelfall wirklich typisch ist, kann nur auf Grund einer umfassenden Betrachtung aller tatsächlichen Elemente des Gesamtgeschehens beurteilt werden, die sich aus dem unstreitigen Parteivortrag und den getroffenen Feststellungen ergeben´ (BGH VersR 2012, 248, 249 mit Verweis auf BGH, NJW 1996, 1828 = VersR 1996, 772; NJW 2008, 809 = VersR 2007, 557 Rn. 5).

Demnach wird einem Auffahrunfall die Typizität regelmäßig zu versagen sein, wenn zwar feststeht, dass vor dem Auffahren ein Spurwechsel des vorausfahrenden Fahrzeugs stattgefunden hat, der Sachverhalt aber im Übrigen nicht aufklärbar ist und sowohl die Möglichkeit besteht, dass der Führer des vorausfahrenden Fahrzeugs unter Verstoß gegen § 7 V StVO den Fahrstreifenwechsel durchgeführt hat, als auch die Möglichkeit, dass der Auffahrunfall auf eine verspätete Reaktion des auffahrenden Fahrers zurückzuführen ist (BGH, VersR 2012, 248, 249; vgl. Senat, Urteil vom 12. Januar 2018 – 10 U 3100/17). Steht der Auffahrunfall dagegen in einem unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Spurwechsel, greift § 7 V StVO. Lässt sich andererseits nicht aufklären, ob der Spurwechsel unmittelbar vor dem Auffahren vollzogen wurde und damit unfallursächlich ist, kommt regelmäßig eine hälftige Schadensteilung in Betracht (vgl. BGH, VersR 2012, 248, 249).

Den Beklagten war es vorliegend möglich den Beweis zu führen, dass der Beklagte zu 1) so lange im gleichgerichteten Verkehr spurgleich vorausgefahren ist, dass der Hintermann den nötigen Sicherheitsabstand einhalten konnte. Dem Kläger dagegen ist nicht gelungen, den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis durch Darlegung ernsthafter Möglichkeiten eines anderen als des erfahrungsgemäßen Geschehensablaufs (BGH NJW 1953, 584; NJW 1963, 953; DAR 1985, 316; OLG Nürnberg, Beschluss vom 16.07.2014 – 1 U 2572/13 [juris]), deren Tatsachen unstreitig oder (voll) bewiesen sein müssen, zu erschüttern. Zweifel gehen zu Lasten des Klägers.

  1. Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare- absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit (vgl. RGZ 15, 338 [339]; BGH NJW 1998, 2969 [2971]; BAGE 85, 140; Senat NZV 2006, 261, st. Rspr., vgl. etwa NJW 2011, 396 [397] und NJW-RR 2014, 601; KG NJW-RR 2010, 1113) und auch keine ´an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit´, sondern nur einen intersubjektiv vermittelten (vgl. § 286 I 2 ZPO), für das praktische Leben brauchbaren Grad von (persönlicher) Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256] – Anastasia, st. Rspr., vgl. etwa NJW 2014, 71 [72] und VersR 2014, 632 f.; BAGE 85, 140; OLG Frankfurt a. M. zfs 2008, 264 [265]; Senat VersR 2004, 124; NZV 2006, 261; NJW 2011, 396 [397]; SP 2012, 111), was auch für innere Vorgänge gilt (BGH NJW-RR 2004, 247).

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabes ist der Senat nach der durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass die Unfallversion der Beklagten, wonach es infolge eines verkehrsbedingten Bremsmanövers des Beklagten zu 1) zu einem schuldhaft verursachten Auffahrgeschehen durch den Kläger gekommen ist, richtig ist, wohingegen eine Überzeugungsbildung dahingehend, dass dem Auffahrgeschehen in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang ein Spurwechsel des Beklagtenfahrzeugs vorangegangen ist, gerade nicht erfolgen konnte. Es ist auch nicht bewiesen, dass dem Auffahrunfall ein Spurwechsel vorausging.“

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Autor(en)


Katrin Kaiser
Rechtsanwältin
Fachanwältin für Familienrecht, Fachanwältin für Verkehrsrecht

Mail: halle@etl-rechtsanwaelte.de


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