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Verwertbarkeit von EncroChat-Daten

Verwertbarkeit von EncroChat-Daten
Aktuelles
22.04.2022

Verwertbarkeit von EncroChat-Daten

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich zu Verwertung von in Frankreich durch die dortigen Ermittlungsbehörden gewonnenen sog. EncroChat-Daten positioniert (BGH, Beschl. v. 02.03.2022 – 5 StR 457/21). Im Mittelpunkt steht die Frage, ob diese Daten in einem in Deutschland geführten Strafverfahren verwertbar sind. In den Entscheidungsgründen heißt es:

„c) Zu einem Beweisverwertungsverbot führende Verstöße gegen rechtshilferechtliche Bestimmungen liegen nicht vor. Der Senat teilt dabei die Auffassung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs, wonach ein aus der Nichteinhaltung rechtshilfespezifischer Bestimmungen abgeleitetes Verwertungsverbot lediglich dann in Betracht zu ziehen ist, wenn den entsprechenden Regeln auch ein individualschützender Charakter zukommt, wenigstens im Sinne eines Schutzreflexes (BGH, Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32 Rn. 25; Radtke, NStZ 2017, 109; vgl. zur Relevanz des Rechtskreisgedankens für die Annahme eines Beweisverwertungsverbots auch BVerfG, Beschlüsse vom 1. Juli 2014 – 2 BvR 989/14, NStZ 2014, 528, 529; vom 8. Juli 2010 – 2 BvR 2485/07, NJW 2011, 207; BGH, Beschlüsse vom 9. August 2016 – 4 StR 195/16, NStZ-RR 2016, 377; vom 24. September 2020 – 4 StR 144/20, NStZ 2021, 59 jeweils mwN).

aa) Ein etwaiger Verstoß französischer Behörden gegen die Pflicht zur Benachrichtigung des von einer grenzüberschreitenden Telekommunikationsüberwachung betroffenen Zielstaates Deutschland aus Art. 31 RL EEA (vgl. zur Frage deren ergänzender unmittelbarer Anwendbarkeit Zimmermann, ZfIStW 2022, 173, 179 mwN) bzw. gegen die diese Vorgaben umsetzenden französischen Vorschriften (wonach die RL EEA unmittelbar in die französische Rechtsordnung integriert wurde, vgl. hierzu näher Knytel, Die Europäische Ermittlungsanordnung und ihre Umsetzung in die deutsche und französische Rechtsordnung, 2020, S. 66 mwN) würde nicht zu einem Beweisverwertungsverbot führen (vgl. hierzu allgemein auch Sieber/von zur Mühlen/Wahl, Rechtshilfe zur Telekommunikationsüberwachung, 2021, S. 1 ff. mwN).

(1) Es ist bereits zweifelhaft, ob dieser Vorschrift insoweit individualschützender Charakter zukommt. Nach Art. 31 Abs. 1 RL EEA unterrichtet bei grenzüberschreitender Telekommunikationsüberwachung der überwachende Mitgliedstaat den Mitgliedstaat, in dem sich die Zielperson der Überwachung befindet und dessen technischer Hilfe es nicht bedarf, von der Überwachung, entweder vorab, wenn dieser Umstand schon im Zeitpunkt der Anordnung bekannt ist, sonst während oder nach der Überwachung unmittelbar nach Kenntnis. Die zuständige Behörde des unterrichteten Staates (hier nach § 92d Abs. 1 Nr. 1 IRG das Amtsgericht Stuttgart) kann in dem Fall, dass die Überwachung in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt würde, der zuständigen Behörde des überwachenden Mitgliedstaates mitteilen, dass die Überwachung nicht durchgeführt werden soll oder zu beenden ist (Art. 31 Abs. 3 RL EEA). In Umsetzung dieser Vorgabe sieht § 91g Abs. 6 Satz 1 IRG in derartigen Fällen eine Pflicht deutscher Behörden vor, der zuständigen Stelle des überwachenden Mitgliedstaates unverzüglich, spätestens aber innerhalb von 96 Stunden mitzuteilen, dass die Überwachung nicht durchgeführt werden kann oder zu beenden ist und dass Erkenntnisse, die bereits gesammelt wurden, während sich die überwachte Person im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland befand, nicht oder nur unter Bedingungen verwendet werden dürfen (vgl. hierzu auch Gebhard/Michalke, NJW 2022, 655, 658). Der Gesetzgeber hat diese im Vergleich zu den Vorgaben von Art. 31 Abs. 3 RL EEA weitergehende Verpflichtung damit begründet, dass ein Schweigen des unterrichteten Mitgliedstaates nach der Systematik der RL EEA als Bewilligung der Überwachungsmaßnahme gelte. Damit bestehe das Risiko, dass aus Telekommunikationsüberwachung auf deutschem Hoheitsgebiet gewonnene sensible Daten im europäischen Ausland auch dann verwendet würden, wenn die Überwachung nach deutschem Recht nicht zulässig wäre. Zum Schutz der Grundrechte von betroffenen Personen und zum Schutz der deutschen Staatssouveränität sei § 91g Abs. 6 IRG deshalb als verbindliche Regelung ausgestaltet (BT-Drucks. 18/9757, S. 75).

Losgelöst von der Frage, ob es bei der in Rede stehenden Beweisgewinnung überhaupt um die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs im Sinne von Art. 31 Abs. 1 RL EEA und § 91g Abs. 6 IRG geht (vgl. United Kingdom, Court of Appeal [Criminal Division] vom 5. Februar 2021 – [2021] EWCA Crim 128, CRi 2021, 62; vgl. auch Erwägungsgrund Nr. 30 der RL EEA), sollen diese Vorschriften den Betroffenen aber nicht vor einer Beweisverwendung im unterrichteten Staat (hier Deutschland), sondern allein vor einer Beweisverwendung im unterrichtenden Staat (hier Frankreich) bzw. im sonstigen europäischen Ausland schützen (vgl. Wahl, ZIS 2021, 452, 457; Zimmermann, ZfIStW 2022, 173, 178). Nur auf diesen Individualschutz stellt die Gesetzesbegründung ab (vgl. BT-Drucks. 18/9757, S. 75). Dies entspricht auch der Systematik des Rechtshilferechts. Die Unterrichtungspflicht dient zum einen vorrangig dem Schutz der deutschen Staatssouveränität, indem hiesige Stellen entscheiden sollen, welche strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen mit direkten Auswirkungen auf deutsches Hoheitsgebiet durchgeführt werden dürfen. Zum zweiten dient die Unterrichtungspflicht dem Grundrechtsschutz der betroffenen Person, allerdings nur insoweit, als es um die Beweisverwendung im Ausland geht. Den Schutz von Betroffenen vor einer Verwendung von Beweismitteln in einem deutschen Strafverfahren können das deutsche Verfassungs- und Prozessrecht ausreichend durch die Annahme eines Beweisverwendungs- oder -verwertungsverbots oder durch bestimmte Verwendungsvorbehalte leisten; hierfür bedarf es keiner Rechtshilfevorschriften, die lediglich den zwischenstaatlichen Rechtsverkehr regeln. Der individuelle Schutzzweck von Art. 31 Abs. 1 RL EEA und § 91g Abs. 6 IRG ist damit auf die Beweisverwendung im Ausland beschränkt und betrifft die Beweisverwendung im Inland nicht.

(2) Unabhängig davon würde ein Beweisverwertungsverbot sogar bei Annahme eines insoweit auch individualschützenden Charakters der Benachrichtigungspflicht nach der gebotenen Abwägung ausscheiden (vgl. Antragsschrift des Generalbundesanwalts; HansOLG Bremen, Beschluss vom 18. Dezember 2020 – 1 Ws 166/20, NStZ-RR 2021, 158; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 Rn. 103 ff.; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 47/21; OLG Celle, Beschluss vom 12. August 2021 – 2 Ws 250/21, StraFo 2021, 466; KG, Beschluss vom 30. August 2021 – 2 Ws 79/21 und 93/21, NStZ-RR 2021, 353; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10. November 2021 – 2 Ws 261/21; aA Erhard/Lödden, StraFo 2021, 366, 368; LG Berlin, Beschluss vom 1. Juli 2021 – [525 KLs] 254 Js 592/20 [10/21], NStZ 2021, 696).

Insoweit gilt (vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 und 857/10, BVerfGE 130, 1 Rn. 117; BGH, Urteile vom 3. Mai 2018 – 3 StR 390/17, NStZ 2019, 227; vom 20. Oktober 2021 – 6 StR 319/21, NStZ 2022, 125 jeweils mwN): Das Strafverfahrensrecht kennt keinen allgemein geltenden Grundsatz, wonach jeder Verstoß gegen Beweiserhebungsvorschriften ein strafprozessuales Verwertungsverbot nach sich zieht. Ob ein solches eingreift, ist vielmehr jeweils nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach der Art des Verbots und dem Gewicht des Verstoßes unter Abwägung der widerstreitenden Interessen zu entscheiden. Dabei ist zu beachten, dass die Annahme eines Verwertungsverbots eines der wesentlichen Prinzipien des Strafverfahrensrechts einschränkt, nämlich den Grundsatz, dass das Gericht die Wahrheit zu erforschen und dazu die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken hat, die von Bedeutung sind. Deshalb handelt es sich bei einem Beweisverwertungsverbot um eine Ausnahme, die nur nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift oder aus übergeordneten wichtigen Gründen im Einzelfall anzuerkennen ist. Maßgeblich beeinflusst wird das Ergebnis der danach vorzunehmenden Abwägung einerseits durch das Ausmaß des staatlichen Aufklärungsinteresses, dessen Gewicht im konkreten Fall vor allem unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit weiterer Beweismittel, der Intensität des Tatverdachts und der Schwere der Straftat bestimmt wird. Andererseits ist das Gewicht des in Rede stehenden Verfahrensverstoßes von Belang, das sich vor allem danach bemisst, ob der Rechtsverstoß gutgläubig, fahrlässig oder vorsätzlich begangen wurde. Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist ein Beweisverwertungsverbot geboten, wenn die Auswirkungen des Rechtsverstoßes dazu führen, dass dem Angeklagten keine hinreichenden Möglichkeiten zur Einflussnahme auf Gang und Ergebnis des Verfahrens verbleiben, die Mindestanforderungen an eine zuverlässige Wahrheitserforschung nicht mehr gewahrt sind oder die Informationsverwertung zu einem unverhältnismäßigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht führen würde. Zudem darf eine Verwertbarkeit von Informationen, die unter Verstoß gegen Rechtsvorschriften gewonnen wurden, nicht bejaht werden, wenn dies zu einer Begünstigung rechtswidriger Beweiserhebungen führen würde. Ein Beweisverwertungsverbot kann daher insbesondere nach schwerwiegenden, bewussten oder objektiv willkürlichen Rechtsverstößen, bei denen grundrechtliche Sicherungen planmäßig oder systematisch außer Acht gelassen worden sind, geboten sein.

Nach diesen Maßstäben würde bei Abwägung der widerstreitenden Interessen aus einem etwaigen Verstoß gegen die Benachrichtigungspflicht des Art. 31 Abs. 1 RL EEA kein Beweisverwertungsverbot folgen: Es geht um die Aufklärung besonders schwerwiegender Straftaten, nämlich Verbrechen nach § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von 15 Jahren bedroht sind (vgl. zur Notwendigkeit der effektiven Bekämpfung solcher Straftaten auch den Rahmenbeschluss 2004/757/JI des Rates vom 25. Oktober 2004 zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen im Bereich des illegalen Drogenhandels, ABl. L 335, S. 8). Andere Beweismittel stehen hier für die Überführung des Angeklagten in den von seinem Geständnis nicht erfassten Fällen nicht zur Verfügung, so dass ohne die Verwertung dieser Beweismittel eine Überführung des Angeklagten in den relevanten Fällen nicht möglich wäre. Die EncroChat-Protokolle sind als Beweismittel besonders ergiebig, da darin offen über Drogengeschäfte in erheblichem Umfang kommuniziert wird.

Demgegenüber fiele ein etwaiger individualschutzbezogener Rechtsverstoß – ungeachtet dessen, dass den französischen Behörden schon früh klar war, dass die Ermittlungsmaßnahme eine Vielzahl von Personen in anderen Ländern betrifft – nicht entscheidend ins Gewicht. Sowohl die französischen Behörden als auch alle beteiligten deutschen Stellen haben zudem im Rechtshilfeverkehr ausdrücklich die Übermittlung und Verwendung der gewonnenen Informationen für Zwecke der Strafverfolgung befürwortet, so dass der von Art. 31 RL EEA in erster Linie bezweckte Souveränitätsschutz ohnehin im Ergebnis nicht verletzt wäre.

bb) Der von der Revision behauptete Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 RL EEA liegt nicht vor.

(1) Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main als insoweit legitimierte Justizbehörde (vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2020 – C 584/19, NJW 2021, 1373) war entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers vor Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung nicht zur Prüfung verpflichtet, ob die durch die französische Justiz bereits vorgenommenen bzw. richterlich genehmigten Maßnahmen, die zur Erlangung der begehrten Daten geführt haben, nach deutschem Prozessrecht hypothetisch rechtmäßig hätten angeordnet werden können. Die auf eine hypothetisch rechtmäßige Erlangung im Anordnungsstaat abzielende Prüfungspflicht des Art. 6 Abs. 1 Buchst. b RL EEA bezieht sich nach ihrem unmissverständlichen Wortlaut und der Systematik lediglich auf ausdrücklich in der Europäischen Ermittlungsanordnung angegebene Ermittlungsmaßnahmen, die der Vollstreckungsstaat noch vornehmen soll, nicht auf solche, die er bereits nach seinem nationalen Recht vorgenommen hat und die dem Transfer bereits vorliegender Beweise lediglich zugrunde liegen.

(a) Nach der Systematik der RL EEA findet eine solche Prüfung deswegen nur statt, wenn es – anders als hier – um die Anordnung einer Vollstreckungsmaßnahme und die Umsetzung dieser Anordnung im ausländischen Vollstreckungsstaat geht (vgl. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 RL EEA). Der Anordnungsstaat prüft in diesem Fall zunächst (wie bei einer Ermittlung im Inland), ob die Ermittlungsmaßnahme seinen eigenen inländischen strafprozessualen Vorschriften entspricht, also auch in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen hätte angeordnet werden können (näher Wortmann, Die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, 2020, S. 113 ff.), und in einem zweiten Schritt, ob der Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung für die Zwecke des Verfahrens unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig ist (Art. 6 Abs. 1 RL EEA, vgl. auch – allerdings lediglich die Bestätigung von Ersuchen von Verwaltungsbehörden betreffend – § 91j Abs. 3 IRG). Der Anordnungsstaat kann nach Art. 9 Abs. 2 RL EEA auf der Einhaltung bestimmter Vorgaben aus seinem nationalen Recht bestehen. Einen abschließenden Kanon von Ermittlungsmaßnahmen, deren Ergebnisse im Rahmen einer Europäischen Ermittlungsanordnung übermittelt werden könnten, enthält die RL EEA nicht (vgl. Erwägungsgrund Nr. 8, Art. 3 RL EEA; näher Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung, Vertrauen – Die Europäische Ermittlungsanordnung, 2015, S. 134; aA Strate, HRRS 2022, 15, 17); sie legt in Kapitel IV lediglich für bestimmte Ermittlungsmaßnahmen besondere Regeln fest (vgl. Art. 22 ff. RL EEA).

Der Vollstreckungsstaat prüft sodann, ob es aus seiner Sicht innerstaatliche Gründe für die Versagung der Anerkennung der Europäischen Ermittlungsanordnung, der Vollstreckung oder für einen Aufschub der Vollstreckung gibt (Art. 9 Abs. 1 iVm Art. 11 Abs. 1 RL EEA). Diese Prüfung ist eingeschränkt, wenn es in der Europäischen Ermittlungsanordnung um Informationen oder Beweismittel geht, die sich bereits im Besitz der Vollstreckungsbehörde befinden und die nach dem Recht des Vollstreckungsstaates im Rahmen eines Strafverfahrens oder für die Zwecke der Europäischen Ermittlungsanordnung hätten erlangt werden können (vgl. auch Art. 10 Abs. 2 Buchst. a RL EEA). Der Anordnungsstaat gewährleistet in einem dritten Prüfungsschritt sodann den erforderlichen Grundrechtsschutz in seinem nationalen Strafverfahren. Er stellt sicher, dass in diesem Verfahren bei der Bewertung der mittels einer Europäischen Ermittlungsanordnung erlangten Beweismittel die Verteidigungsrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden (Art. 14 Abs. 7 Satz 2 RL EEA).

(b) Geht es – wie hier (vgl. Art. 1 Abs. 1 Satz 2 RL EEA) – lediglich um die Übermittlung der durch einen anderen Mitgliedstaat aufgrund eigener Ermittlungstätigkeit nach dessen nationalem Recht bereits erlangten Beweise (vgl. dazu näher auch Wortmann, Die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, 2020, S. 141 ff.), gerät der erste Prüfungsschritt teilweise in Wegfall (anders Roth, GSZ 2021, 238, 244 ff.). Der Anordnungsstaat prüft nach der Systematik der RL EEA dann nicht, ob die Ermittlungsmaßnahme nach seinem eigenen Recht hypothetisch hätte angeordnet werden dürfen, denn eine zu vollstreckende Ermittlungsmaßnahme enthält die lediglich auf einen Beweistransfer abzielende Europäische Ermittlungsanordnung in diesem Fall nicht. Zu prüfen ist dann lediglich nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a RL EEA, ob der Erlass der Euro-päischen Ermittlungsanordnung für die Zwecke des Verfahrens unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person notwendig und verhältnismäßig ist.

Zwar gewährleistet die RL EEA beim Transfer bereits erhobener Daten unmittelbar den Schutz der Rechte des Vollstreckungsstaats (vgl. Wortmann, Die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, 2020, S. 145, sowie Art. 10 Abs. 2 Buchst. a RL EEA). Auf der Ebene des Anordnungsstaates ist der Schutz der Rechte von der Maßnahme betroffener Personen in solchen Fällen hingegen vor Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung durch die Prüfung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a RL EEA und nach Erhalt der Informationen durch die anschließende Prüfung der Beweismittel im nationalen Strafverfahren nach Art. 14 Abs. 7 Satz 2 RL EEA (einschließlich der Frage der Beweisverwertung) zu gewährleisten.

Der deutsche Gesetzgeber hat im Rahmen der Umsetzung der RL EEA dazu ausgeführt (BT-Drucks. 18/9757, S. 32): ´Der Anordnungsstaat muss nach [Art. 14 Abs. 7] Satz 2 [RL EEA] außerdem sicherstellen, dass bei der Verwertung von Beweismitteln, die durch eine EEA erlangt wurden, im Strafverfahren die Verteidigerrechte gewahrt und ein faires Verfahren gewährleistet werden; das nationale Verfahrensrecht bleibt allerdings ausdrücklich unberührt. Die Regelung versteht sich vor dem Hintergrund, dass der Rechtsschutz im Vollstreckungsstaat zu spät kommen kann, dies insbesondere, wenn die Ermittlungsmaßnahme verdeckt geführt wurde und die betroffenen Personen davon erst im Nachhinein Kenntnis erlangen. In diesen Fällen scheidet auch eine Aussetzung der Übermittlung der Beweismittel nach Artikel 13 Absatz 2 Satz 1 der RL EEA in der Regel aus. Umsetzungsbedarf besteht nicht. Die Verwertbarkeit eines Beweismittels, das im Wege der Rechtshilfe von einem ausländischen Staat gewonnen wurde, richtet sich nach der Rechtsordnung des ersuchenden Staates. Die Rechtsprechung hat, ausgehend von dem rechtsstaatlichen Gebot eines fairen Verfahrens (vgl. etwa BVerfGE 130, 1, 25 ff.), Fallgruppen dazu herausgearbeitet, welche Gründe zu einer Unverwertbarkeit führen können. Diese tragen den Vorgaben aus Absatz 7 Rechnung. Im Bereich der strafrechtlichen Rechtshilfe kommt es nach dem Maßstab der Verfahrensfairness für die grenzüberschreitend erhobenen Beweismittel darauf an, ob unter der Geltung der inländischen Rechtsordnung eine zuverlässige Beweisführung in einem fairen Verfahren möglich ist (BGHSt 58, 32, 41 m. w. N.). Sind danach Beweismittel verwertbar, tragen zusätzlich der Grundsatz der freien Beweiswürdigung aus § 261 StPO und der für das deutsche Strafverfahren geltende Grundsatz ‚Im Zweifel für den Angeklagten‘ den Vorgaben aus Absatz 7 Rechnung.´

Da es nicht um die Anordnung einer eigenen Ermittlungsmaßnahme geht, die erst noch von einem Mitgliedstaat im Ausland vollstreckt werden soll, sondern nur um den Transfer bereits vorliegender Beweismittel, hängt die Zulässigkeit einer Europäischen Ermittlungsanordnung deshalb in Fällen wie dem vorliegenden nicht davon ab, ob die zugrunde liegende Ermittlungsmaßnahme nach deutschem Recht (etwa §§ 100a, 100b StPO) rechtmäßig hätte ergehen können (vgl. auch BGH, Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32 Rn. 36; anders Roth, GSZ 2021, 238, 248, der allerdings die Voraussetzungen des § 100b StPO bejaht; die Rechtmäßigkeit der Maßnahme – wie der Generalbundesanwalt – entsprechend § 100b StPO [bzw. in Kombination mit § 100a StPO] annehmend: HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 Rn. 93 ff.; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 47/21; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 10. November 2021 – 2 Ws 261/21; anders Sommer, StV Spezial 2021, 67, 69; Strate, HRRS 2022, 15, 16; Derin/Singelnstein, NStZ 2021, 449, 451 f.; dies., StV 2022, 130, 131; LG Berlin, Beschluss vom 1. Juli 2021 – [525 KLs] 254 Js 592/20 [10/21], NStZ 2021, 696).

(2) Durchgreifende Rechtsfehler der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main bei der Prüfung nach Art. 6 Abs. 1 Buchst. a RL EEA oder dem Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung sind nicht ersichtlich.

Angesichts der unter 2. b) geschilderten Verdachtslage und der über Europol dem Bundeskriminalamt übermittelten Erkenntnisse war die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt wegen des Verdachts schwerer Betäubungsmittelstraftaten im Sinne eines Anfangsverdachts plausibel. Auf dieser Grundlage durfte die Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 161 Abs. 1 StPO eine Europäische Ermittlungsanordnung erlassen, die auf die umfassende Übermittlung sämtlicher Daten mit Bezug auf typischerweise im Rahmen organisierter Kriminalität begangene strafbare Handlungen im deutschen Staatsgebiet gerichtet war (aA Wahl, ZIS 2021, 452, 460; Sommer, StV Spezial 2021, 67, 69; Zimmermann, ZfIStW 2022, 173, 180).

Art. 4 RL EEA enthält insoweit ebenso wenig eine Einschränkung auf ein näher konkretisiertes Ermittlungsverfahren gegen einen bestimmten (bekannten oder unbekannten) Beschuldigten wie die §§ 91a ff. IRG. Eine solche ergibt sich auch nicht aus Erwägungsgrund Nr. 10 der RL EEA, der nicht auf den Transfer bereits vorliegender oder durch eine schon laufende Maßnahme des Vollstreckungsstaates erlangter Beweismittel bezogen ist. Die Beschreibung der in Frage kommenden vielfältigen Straftaten von EncroChat-Nutzern im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. d RL EEA konnte angesichts der umfassenden, aber noch nicht spezifizierten Verdachtslage und der den französischen Behörden und Gerichten bereits vorliegenden Informationen – anders als bei der Bitte um Vornahme einer konkreten Vollstreckungshandlung im europäischen Ausland – wie geschehen eine Vielzahl möglicher Straftaten in pauschaler Aufzählung erfassen (Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 9. August 2021 – 2 Ws 113/21 (S); abweichend Wahl, ZIS 2021, 452, 460; Zimmermann, ZfIStW 2022, 173). Zusätzliche Angaben zwecks Prüfung der Voraussetzungen von Art. 11 Abs. 1 Buchst. a, b, d, e und f RL EEA benötigten die französischen Behörden aufgrund der ihnen bereits bekannten Informationen offensichtlich nicht, da sie nicht nach Art. 11 Abs. 4 RL EEA um die Übermittlung zusätzlicher Angaben ersucht haben. Der vorliegende Fall unterscheidet sich von dem in Art. 11 Abs. 1 RL EEA vorausgesetzten Regelfall des Ersuchens um die Vollstreckung einer bestimmten Ermittlungsmaßnahme auf der Grundlage eines im Anordnungsstaat durchgeführten Ermittlungsverfahrens grundlegend dadurch, dass die Behörden des Vollstreckungsstaates aufgrund der von ihnen durchgeführten Beweiserhebung bereits über sämtliche für die Frage der Anerkennung der Europäischen Ermittlungsanordnung relevanten Informationen verfügten (vgl. auch Antragsschrift des Generalbundesanwalts).

Auf der Grundlage der unter 2. b) geschilderten Verdachtslage einer allein kriminellen Nutzung der EncroChat-Dienste und der über Europol übermittelten Erkenntnisse lässt die Annahme der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main, der Erlass einer Europäischen Ermittlungsanordnung hinsichtlich sämtlicher das Bundesgebiet betreffender EncroChat-Daten sei im Sinne von Art. 6 Abs. 1 Buchst. a RL EEA auch unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen Personen notwendig und verhältnismäßig (vgl. zu dieser Prüfung näher Wortmann, Die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen, 2020, S. 82 ff.), Rechtsfehler nicht erkennen (aA Zimmermann, ZfIStW 2022, 173, 181). Zu berücksichtigen ist dabei insbesondere, dass es angesichts der sehr hohen Kosten für Erwerb und Nutzung von EncroChat-Handys von vornherein nicht um mögliche Bagatellstraftaten, sondern um schwerste Straftaten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität ging, deren Aufklärung ohne Zugriff auf die in Frankreich erlangten Informationen ansonsten kaum möglich erschien.

cc) Dass sich die zuständige französische Richterin bei ihrer Genehmigung des Beweismitteltransfers auf der Grundlage der Europäischen Ermittlungsanordnung statt auf die RL EEA auf das Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU-RhÜbk) aus dem Jahr 2000 (ABl. C 197, S. 3) und das zugehörige Protokoll berufen hat, ist unschädlich, denn daraus würde nichts Anderes folgen (kritisch Strate, HRRS 2022, 15, 17).

dd) Einen etwaigen Verstoß gegen rechtshilferechtliche Vorschriften beim Datenaustausch oder der sonstigen Zusammenarbeit zwischen französischen und deutschen Polizeibehörden vor Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung (vgl. zur Zulässigkeit des spontanen Austauschs von Informationen und Erkenntnissen ohne Ersuchen insbesondere Art. 7 EU-RhÜbk; Art. 7 des Rahmenbeschlusses 2006/960/JI des Rates vom 18. Dezember 2006 über die Vereinfachung des Austauschs von Informationen und Erkenntnissen zwischen den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. L 386, S. 89; ausführlich dazu auch Fahrner, Handbuch Internationale Ermittlungen, 2020, § 14 Rn. 1 ff., § 16 Rn. 1 ff., § 17 Rn. 1 ff. jeweils mwN) hat die Revision innerhalb der Revisionsbegründungsfrist nicht geltend gemacht. An die Verwertung der aus einem solchen Informationsaustausch stammenden Daten sind jedenfalls keine höheren Anforderungen als an die Verwertung von durch eine Europäische Ermittlungsanordnung erlangten Daten zu stellen. Es kommt nach alledem auch nicht mehr darauf an, dass aufgrund der nachträglichen Einholung der Zustimmung (vgl. § 92b Satz 2 IRG) ein durchgreifender Rechtsfehler ohnehin nicht auf der Hand liegt (vgl. auch Wahl, ZIS 2021, 452, 459; HansOLG Bremen, Beschluss vom 18. Dezember 2020 – 1 Ws 166/20, NStZ-RR 2021, 158; aA Zimmermann, ZfIStW 2022, 173, 183).

Eine gezielte oder systematische Umgehung dem individuellen Rechtsschutz von Beschuldigten dienender Vorschriften durch französische oder deutsche Behörden ist im Übrigen auch nach dem nachgeschobenen Vorbringen weder nachvollziehbar dargelegt noch sonst konkret ersichtlich (vgl. auch HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 Rn. 106 ff.; Schleswig-Holsteinisches OLG, Beschluss vom 29. April 2021 – 2 Ws 47/21; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 16. Dezember 2021 – 2 Ws 197/21; Zimmermann, ZfIStW 2022, 173, 185).

d) Ein Beweisverwertungsverbot ergibt sich auch nicht unmittelbar aus deutschem Verfassungsrecht. Die erlangten Informationen dürfen nach § 261 StPO (im Ermittlungsverfahren nach § 161 Abs. 1 StPO) zur Verfolgung von auch im Einzelfall schweren Straftaten im Sinne von § 100b Abs. 2 StPO verwendet werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos und der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht berührt ist.

aa) Ein absolutes Beweisverwertungsverbot unmittelbar aus den Grundrechten ist nur in Fällen anzuerkennen, in denen der absolute Kernbereich privater Lebensgestaltung berührt ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. November 2010 – 2 BvR 2101/09, NStZ 2011, 103 Rn. 45 mwN). Dies ist bei der Kommunikation über die Planung und Durchführung von Straftaten in aller Regel – wie auch hier – nicht der Fall (vgl. auch HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 Rn. 71).

bb) Für die Beweisverwertung der mittels der Europäischen Ermittlungsanordnung erlangten Informationen im deutschen Strafverfahren gibt es eine gesetzliche Grundlage (vgl. BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 und 1857/10, BVerfGE 130, 1 ff. Rn. 120, 137 ff. mwN):

Die Verwertung personenbezogener Informationen in einer gerichtlichen Entscheidung greift zwar in das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1 GG) ein. Verfassungsgemäße Rechtsgrundlage für die Beweisverwertung in einem strafgerichtlichen Urteil ist aber § 261 StPO; Verwendungs- und Verwertungsverbote, die nicht an eine rechtswidrige Informationserhebung oder -verwendung anknüpfen, sind jeweils nur für Einzelfälle ausdrücklich angeordnet. Das Gewicht des in der Verwertung liegenden Eingriffs hängt maßgeblich davon ab, welchen Grad an Persönlichkeitsrelevanz die betroffenen Informationen haben und auf welchem Weg sie erlangt wurden. Die Eingriffsintensität ist insbesondere dann gesteigert, wenn die ursprüngliche Erhebung der verwerteten Informationen mit einem Eingriff in Art. 10 oder Art. 13 GG verbunden war. In Strafverfahren wird, soweit es um die Verwertung rechtmäßig erhobener Daten geht, die Verhältnismäßigkeit der Informationsverwertung im Urteil in aller Regel bereits durch Beschränkungen der vorangehenden Informationserhebung gewährleistet, da zahlreiche Ermittlungsmaßnahmen und Beweiserhebungen nur unter einschränkenden Voraussetzungen zulässig sind.

cc) Diese verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Verhältnismäßigkeit der Beweisverwertung bedürfen im Fall von mittels Rechtshilfe bei einem Mitgliedstaat erhobener Beweismittel der Anpassung. Für durch Rechtshilfe erlangte Informationen, die nicht auf einer Anordnung der Ermittlungsmaßnahme durch deutsche Behörden, sondern nur auf der Übermittlung von Beweisergebnissen beruhen, die ein anderer Mitgliedstaat auf eigener Rechtsgrundlage erhoben hat, fehlt es an einer ausdrücklichen Verwendungsbeschränkung jenseits des im Rechtshilfeverkehr geltenden ordre-public-Vorbehalts. Die Vorschrift des § 100e Abs. 6 StPO ist auf die vorliegende Konstellation nach ihrem Wortlaut nicht anwendbar, da die in Rede stehenden Daten nicht durch Maßnahmen nach den §§ 100b, 100c StPO, sondern durch eigenständige Maßnahmen nach französischem Prozessrecht gewonnen wurden (vgl. Roth, GSZ 2021, 238, 244; abweichend HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 Rn. 59; KG, Beschluss vom 30. August 2021 – 2 Ws 79/21 und 93/21, NStZ-RR 2021, 353: unmittelbar anwendbar).

Aufgrund der Besonderheiten der Beweisrechtshilfe und des diese umgebenden unionsrechtlichen Rechtsrahmens sind die Maßstäbe für die Verwertbarkeit von Erkenntnissen, die aus einer inländischen Überwachungsmaßnahme einerseits und einer ausländischen andererseits stammen, jedenfalls dann nicht völlig identisch, wenn es um die Verwertung von bereits außerhalb der Rechtshilfe vorhandenen ausländischen Überwachungsergebnissen geht, also die entsprechenden Informationen im Rahmen eines dort bereits betriebenen Strafverfahrens gewonnen und nicht aufgrund eines Rechtshilfeersuchens erhoben wurden (BGH, Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32 Rn. 36 f.).

Gerade wenn – wie vorliegend – besonders intensive Grundrechtseingriffe durch heimliche Ermittlungsmaßnahmen in Rede stehen (vgl. zur Online-Durchsuchung näher BVerfG, Urteil vom 27. Februar 2008 – 1 BvR 370/07 und 595/07, BVerfGE 120, 274; hierzu auch Wahl, ZIS 2021, 452, 456), die durch die Verwertung derart erlangter Beweise im Strafverfahren im Sinne eines eigenständigen Eingriffs in das geschützte Grundrecht vertieft werden (vgl. BGH, aaO, Rn. 45), sind verfassungsrechtliche Schutzmechanismen für die Beweisverwertung indes unabdingbar (vgl. auch BVerfG, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17, BVerfGE 154, 152 ff. Rn. 216 ff.). Dem Kernbereichsschutz und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kommen dabei besondere Bedeutung zu.

Bei innerstaatlichen Ermittlungen oder im Wege der europäischen Rechtshilfe ersuchten ausländischen Ermittlungsmaßnahmen wird der – durch Beweisverwertung fortdauernde oder sich vertiefende – Grundrechtseingriff regelmäßig bereits bei der Anordnung der Ermittlungsmaßnahme selbst limitiert (etwa Beschränkung auf besonders schwere Straftaten oder Fälle qualifizierten Verdachts). Kann diese Beschränkung in Fällen wie dem vorliegenden nicht geleistet werden, weil hier durch einen anderen Mitgliedstaat in originärer Anwendung seines nationalen Rechts in die Grundrechte Betroffener eingegriffen wird, sind die dadurch möglichen Unterschiede bei den Eingriffsvoraussetzungen auf der Ebene der Beweisverwendung zu kompensieren. Hierfür kann auf die in strafprozessualen Verwendungsbeschränkungen verkörperten Wertungen zurückgegriffen werden, mit denen der Gesetzgeber dem verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei vergleichbar eingriffsintensiven Mitteln Rechnung trägt (vgl. auch BVerfG, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17, BVerfGE 154, 152 ff. Rn. 216 ff.). Im vorliegenden Fall können aufgrund des Gewichts der Maßnahme zur Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – auch um jede denkbare Benachteiligung auszuschließen – die Grundgedanken der Verwendungsschranke mit dem höchsten Schutzniveau (§ 100e Abs. 6 StPO) fruchtbar gemacht werden.

Daraus folgt: Eine Beweisverwertung von Erkenntnissen aus dem Kernbereich privater Lebensführung ist – wie oben ausgeführt – stets unzulässig (vgl. auch § 100d Abs. 2 Satz 1 StPO). Darüber hinaus dürfen die im Wege europäischer Rechtshilfe erlangten Beweisergebnisse aus dem EncroChat-Komplex in einem Strafverfahren ohne Einwilligung der überwachten Person nur zur Aufklärung einer Straftat, auf Grund derer eine Maßnahme nach § 100b StPO hätte angeordnet werden können, oder zur Ermittlung des Aufenthalts der einer solchen Straftat beschuldigten Person verwendet werden (vgl. die Wertung des § 100e Abs. 6 Nr. 1 StPO). Hierbei sind die den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz konkretisierenden einschränkenden Voraussetzungen in § 100b Abs. 1 Nr. 2 und 3 StPO in den Blick zu nehmen. Danach muss die Straftat auch im Einzelfall besonders schwer wiegen und die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos sein.

Für diese Prüfung ist auf den Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung der Beweisergebnisse abzustellen (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Rn. 29; Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32 Rn. 45 f.). Insoweit kommt es nicht auf die Rekonstruktion der Verdachtslage im Anordnungszeitpunkt, sondern auf die Informationslage im Verwendungszeitpunkt an (vgl. BGH, Urteil vom 16. Juni 1983 – 2 StR 837/82, BGHSt 32, 10, 15; HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21; KG, Beschluss vom 30. August 2021 – 2 Ws 79/21 und 93/21, NStZ-RR 2021, 353; Köhler in Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 64. Aufl., § 479 Rn. 3; KK-StPO/Bruns, 8. Aufl., § 100a Rn. 54; aA LG Berlin, Beschluss vom 1. Juli 2021 – [525 KLs] 254 Js 592/20 [10/21], NStZ 2021, 696). Dem Gedanken des hypothetischen Ersatzeingriffs (vgl. dazu auch BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 und 1857/10, BVerfGE 130, 1 ff. Rn. 147 mwN; Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17, BVerfGE 154, 152 ff. Rn. 216; näher Schneider, GSZ 2022, 1 ff. mwN) ist bereits dadurch Genüge getan, dass die Daten nunmehr im Strafverfahren zur Klärung des Verdachts einer Katalogtat verwendet werden sollen (vgl. BGH, Urteil vom 14. August 2009 – 3 StR 552/08, BGHSt 54, 69 Rn. 25) und sich die qualifizierte Verdachtslage aus den vorhandenen Daten ergibt (HansOLG Hamburg, Beschluss vom 29. Januar 2021 – 1 Ws 2/21 Rn. 63; OLG Celle, Beschluss vom 12. August 2021 – 2 Ws 250/21, StraFo 2021, 466; anders Sommer, StV Spezial 2021, 67, 69; Erhard/Lödden, StraFo 2021, 366, 369).

Danach liegen die Voraussetzungen für eine Beweisverwertung der EncroChat-Protokolle auch nach der gebotenen strikten Verhältnismäßigkeitsprüfung im hiesigen Verfahren vor: Es geht um Verbrechen des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (vgl. § 100b Abs. 2 Nr. 5 Buchst. b StPO), die auch im Einzelfall schwer wiegen (Fall 6: Angebot von 5 kg Kokain mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 70 %; Fall 9: Vereinbarung eines Kaufs von 3 kg Marihuana mit einem Wirkstoffgehalt von mindestens 10 %, das zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt war). Die Erforschung des Sachverhalts wäre ohne diese Beweismittel nicht möglich. Die Daten betreffen keine Erkenntnisse aus dem Kernbereich der privaten Lebensgestaltung (vgl. § 100d Abs. 2 Satz 1 StPO).

dd) Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist nicht Voraussetzung der Beweisverwertung, dass das deutsche Strafprozessrecht eine entsprechende Maßnahme vorsieht.

Im Rechtshilfekontext ist es gerade nicht ausgeschlossen, von anderen Mitgliedstaaten ausdrücklich zu Zwecken der Strafverfolgung übermittelte Daten aus Maßnahmen zu verwenden, die keine Entsprechung in der StPO haben (vgl. auch BVerfG, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17, BVerfGE 154, 152 ff. Rn. 216 ff.; aA Derin/Singelnstein, NStZ 2021, 449, 450). Denn den national unterschiedlichen Strafverfahrensordnungen ist es immanent, dass sie aufgrund ihres divergenten historischen Ursprungs und der engen Anbindung an unterschiedliche Verfassungsregime auch unterschiedliche strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen vorsehen (vgl. nur Art. 10 Abs. 1 Buchst. a RL EEA; vgl. zu grundlegenden Unterschieden im Ermittlungsverfahren zwischen Deutschland und Frankreich auch Knytel, Die Europäische Ermittlungsanordnung und ihre Umsetzung in die deutsche und französische Rechtsordnung, 2020, S. 91 ff. mwN). Bei der Erlangung von Beweismitteln, die ein anderer Staat nach seiner nationalen Rechtsordnung in eigener Zuständigkeit erhoben hat, kann die Anwendung deutscher Verfahrensregeln grundsätzlich nicht erwartet werden (Schuster, ZIS 2016, 564, 565 mwN). Die bloße Nichteinhaltung deutschen Rechts bei einer ausländischen Ermittlungsmaßnahme kann daher nicht per se ein unselbständiges Beweisverwertungsverbot begründen (Schuster, aaO, S. 568). Die Einhaltung rechtsstaatlicher Mindeststandards wird in solchen Fällen durch Prüfung der Vereinbarkeit der Maßnahme mit dem nationalen und europäischen ordre public und eine strikte Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Beweisverwertung unter Annahme besonderer Verwendungsvorbehalte gewährleistet.

Aus verfassungsrechtlichen Gründen ist es nicht erforderlich, dass die ausländische Ermittlungsmaßnahme auch auf deutscher Rechtsgrundlage möglich gewesen wäre. Derartige Vorgaben können weder unmittelbar der Verfassung selbst noch den einschlägigen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (hierzu ausführlich Gleß/Wahl/Zimmermann in Schomburg/Lagodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 6. Aufl., § 73 IRG Rn. 7 ff. mwN) entnommen werden. Einer über § 261 StPO hinausgehenden gesonderten Rechtsgrundlage für die ´Umwidmung´ (vgl. zum Problem der ´Umwidmung´ im Rechtshilfekontext näher auch Fahrner, Handbuch Internationale Ermittlungen, 2020, § 20 Rn. 57 ff. mwN) der im Wege der Rechtshilfe erlangten, vom fremden Mitgliedstaat auf Ersuchen ausdrücklich zu Zwecken der Strafverfolgung übermittelten Daten zur Verwendung in deutschen Strafverfahren bedarf es nicht (aA Derin/Singelnstein, NStZ 2021, 449, 450; dies., StV 2022, 130).

ee) Ob für den Fall eines zwecks bewusster Umgehung strengerer inländischer Anordnungsvoraussetzungen gestellten Rechtshilfeersuchens (im Sinne eines ´Befugnis-Shoppings´, vgl. Roth, GSZ 2021, 238, 247; Labusga, NStZ 2021, 702, 704) eine andere Bewertung vorzunehmen wäre, bedarf keiner Entscheidung (vgl. bereits BGH, Beschluss vom 21. November 2012 – 1 StR 310/12, BGHSt 58, 32 Rn. 37). Eine solche Konstellation ist weder dargetan noch sonst ersichtlich (KG, Beschluss vom 30. August 2021 – 2 Ws 79/21 und 93/21, NStZ-RR 2021, 353).

e) Schließlich steht auch das einfache Prozessrecht der Beweisverwertung nicht entgegen. Normen, die einer Beweisverwertung der EncroChat-Protokolle im konkreten Fall entgegenstehen, sind nicht gegeben.

3. In dieser Auslegung ist die Beweisverwertung auch mit den Regelungen der EMRK vereinbar. Zu einem Beweisverwertungsverbot führende Verstöße gegen Art. 8 oder 10 EMRK sind bei einer auf der Grundlage eines hinreichenden Verdachts wegen schwerer Straftaten (die auch noch aktuell eine Gefahr für besonders wichtige Rechtsgüter darstellen) durch einen Richter angeordneten Überwachung im Ausmaß des vorliegenden Falls nicht festzustellen (vgl. zur Auslegung von Art. 8 und 10 EMRK im Zusammenhang mit einer – hier allerdings nicht einschlägigen – anlasslosen Internet-Kommunikationsüberwachung durch staatliche Nachrichtendienste EGMR [Große Kammer], Urteile vom 25. Mai 2021 – 58170/13, 62322/14, 24960/15 [Big Brother Watch u.a. gegen Vereinigtes Königsreich] und 35252/08 [Centrum för Rättvisa gegen Schweden]; vgl. zur Thematik auch BVerfG, Urteil vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2835/17, BVerfGE 154, 152; Strate, HRRS 2022, 15, 17 f.). Die Verwertung der in Frankreich erlangten Beweise verstößt auch nicht gegen sonstige Verfahrensgarantien der EMRK. Der Schutz der Beschuldigtenrechte, wie insbesondere des Rechts auf ein faires Verfahren (hierzu näher Zimmermann, ZfIStW 2022, 173, 185 ff. mwN), wird durch die nationale Prozessordnung und hierbei insbesondere durch die Prüfung der Einhaltung des ordre public und eines Beweisverwertungsverbots im konkreten Fall gewährleistet (vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 7. Dezember 2011 – 2 BvR 2500/09 und 1857/10, BVerfGE 130, 1 Rn. 122).

4. Klärungsbedürftige Fragen der Anwendung europäischen Rechts im Sinne von Art. 267 AEUV ergeben sich nicht, da sich die Frage der Beweisverwertung im hiesigen Strafverfahren nicht nach europäischem, sondern nach nationalem Recht richtet. Das nationale Verfahrensrecht bleibt von der RL EEA unberührt (vgl. BT-Drucks. 18/9757, S. 32).“

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Gregor Heiland
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