Startseite | Aktuelles | Steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zu, wenn der Arbeitgeber eine vorzeitige Attestpflicht verlangt?

Steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zu, wenn der Arbeitgeber eine vorzeitige Attestpflicht verlangt?

Steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zu, wenn der Arbeitgeber eine vorzeitige Attestpflicht verlangt?
Frage des Tages
12.07.2022

Steht dem Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht zu, wenn der Arbeitgeber eine vorzeitige Attestpflicht verlangt?

In einem vor dem Landesarbeitsgericht (LAG) Berlin-Brandenburg ausgetragene Rechtsstreit stritten Betriebsrat und Arbeitgeber vorrangig um Unterlassungsansprüche gegen nicht mitbestimmte Auflagen des Arbeitgebers, ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ab dem ersten krankheitsbedingten Abwesenheitstag vorzulegen (LAG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 03.12.2021 – 12 TaBV 74/21 m. Anm. Vossen in DB 2022, 1461).

In den Entscheidungsgründen des Beschlusses heißt es:

„Die Beschwerde ist unbegründet. Zu Recht hat das Arbeitsgericht die erstinstanzlich gestellten Anträge zurückgewiesen. Die im Berufungsverfahren zusätzlich eingeführten Hilfsanträge bleiben ebenfalls ohne Erfolg. Alle Anträge sind (jedenfalls) unbegründet. Die vom Betriebsrat geltend gemachten Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche bestehen nicht. Die Arbeitgeberin hat durch die Erteilung der Attestauflagen nicht das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) verletzt. Im Einzelnen ist folgendes auszuführen:

1. Zulässigkeitsbedenken bestehen hinsichtlich der Anträge zu 1b und 1c. Die dort gemachte Einschränkung hinsichtlich der allein in der Person des oder der Beschäftigten begründeten Umstände könnte zu unbestimmt sein, als dass sie einer Vollstreckung zur Grundlage dienen könnte. Ob die Anträge deshalb wegen Verfehlung der Anforderungen aus § 253 Abs. 2 Ziffer 2 Zivilprozessordnung (ZPO) unzulässig sind, kann aber dahingestellt bleiben, weil auch diese Anträge wegen bisher nicht eingetretener Verletzung des Mitbestimmungsrechts unbegründet sein würden. Im Übrigen bestehen keine Bedenken gegen die Zulässigkeit der Anträge. Die Androhung des Ordnungsgeldes kann mit der Hauptsache verbunden werden, vgl. § 890 Abs. 2 ZPO. An dem Verfahren sind die Arbeitgeberin und der Betriebsrat zu beteiligen, vgl. § 83 Abs. 3 ArbGG. Die Zuständigkeit des Betriebsrats für den Betrieb der Arbeitgeberin folgt dabei aus dem zitierten Tarifvertrag. Auf der Grundlage von § 3 Abs. 1 Ziffer 1a, Ziffer 3 BetrVG konnte dieser Tarifvertrag für die A Netzwerk die Bildung eines unternehmenseinheitlichen Betriebsrats bestimmen, der zugleich unternehmensübergreifend für deren 100%ige Tochtergesellschaften zuständig ist.

2. Der Nachweis einer bestehenden krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit gegenüber dem Arbeitgeber durch ärztliches Zeugnis ist in § 5 Abs. 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) geregelt.

a. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG bestimmt, dass der Arbeitnehmer dann, wenn die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage dauert, eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Arbeitstag vorzulegen hat. Nach § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG ist der Arbeitgeber berechtigt, die Vorlage der ärztlichen Bescheinigung früher zu verlangen. Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als in der Bescheinigung angegeben, ist der Arbeitnehmer verpflichtet, eine neue ärztliche Bescheinigung vorzulegen, § 5 Abs. 1 Satz 4 EFZG.

b. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts eröffnet § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG dem Arbeitgeber die Möglichkeit, auf der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auch für den ersten Tag der Arbeitsunfähigkeit zu bestehen. Das Verlangen kann auf die Vorlage und mittelbar dadurch auch auf die Einholung der ärztlichen Bescheinigung gerichtet sein (BAG, 1. Oktober 1997 – 5 AZR 726/96, juris Rn 25, 27). Dabei steht die Ausübung des Rechts, die ärztliche Bescheinigung vor dem vierten Krankheitstag zu verlangen, in dem nicht gebundenem Ermessen des Arbeitgebers. Allerdings findet das Verlangen nach einer Vorlage der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schon ab dem ersten Tag einer Erkrankung seine Grenzen an den allgemeinen Schranken jeder Rechtsausübung, insbesondere darf das Verlangen nicht schikanös oder willkürlich sein und weder gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz noch gegen Diskriminierungsverbote verstoßen (BAG, 14. Nov. 2012 – 5 AZR 886/11, juris Rn 14f).

3. Anordnungen des Arbeitgebers, die ärztliche Bescheinigung über die erkrankungsbedingte Arbeitsunfähigkeit vor dem vierten Tag vorzulegen, und Anordnungen zu den Modalitäten der Vorlagepflicht können das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auslösen.

a. Nach § 87 Abs. 1 Nr. 1 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) hat der Betriebsrat mitzubestimmen bei den Fragen der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb. Gegenstand des Mitbestimmungsrechts ist das betriebliche Zusammenleben und Zusammenwirken der Arbeitnehmer. Dieses kann der Arbeitgeber kraft seiner Leitungsmacht durch Verhaltensregeln oder sonstige Maßnahmen beeinflussen und koordinieren. Zweck des Mitbestimmungsrechts ist es, die Arbeitnehmer hieran zu beteiligen. Sie sollen an der Gestaltung des betrieblichen Zusammenlebens gleichberechtigt teilnehmen. Dagegen sind Regelungen und Weisungen, welche die Arbeitspflicht unmittelbar konkretisieren – sog. Arbeitsverhalten -, nicht mitbestimmungspflichtig (BAG, 22. August 2017 – 1 ABR 52/14, juris Rn 24; BAG, 23. August 2018 – 2 AZR 235/18, juris Rn 27). Das Arbeitsverhalten ist berührt, wenn der Arbeitgeber kraft seiner Organisations- und Leitungsmacht näher bestimmt, welche Arbeiten auszuführen sind und in welcher Weise das geschehen soll. Mitbestimmungsfrei sind danach nur Anordnungen, mit denen die Arbeitspflicht unmittelbar konkretisiert wird. Hingegen betreffen Anordnungen, die dazu dienen, das sonstige Verhalten der Arbeitnehmer zu koordinieren, die Ordnung des Betriebes (BAG, 25. Januar 2000 – 1 ABR 3/99, juris Rn 26).

b. Vorschriften über die Pflicht des Arbeitnehmers, im Falle einer Krankheit ein ärztliches Attest vorzulegen, betreffen eine Frage der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb (BAG, 27. Juni 1990 – 5 AZR 314/89, juris Rn 25). Allgemeine arbeitgeberseitige Anordnungen zur vorzeitigen Vorlage enthalten keine Konkretisierung der Arbeitspflicht. Vielmehr sind sie unabhängig von einer Arbeitsleistung und betreffen das Ordnungsverhalten, insoweit sie eine Regel aufstellen, die von allen Arbeitnehmern unabhängig von der Arbeitsleistung zu beachten ist (BAG, 25. Januar 2000 – 1 ABR 3/99, juris Rn 27f). Verlangt der Arbeitgeber von Arbeitnehmern unabhängig von einer Arbeitsleistung in einer bestimmten Form und innerhalb einer bestimmten Frist den Nachweis jeglicher Arbeitsunfähigkeit, betrifft dieses regelhafte Verlangen grundsätzlich das betriebliche Ordnungsverhalten. Hierfür eröffnet die einschlägige Vorschrift im EFZG, wonach er die ärztliche Bescheinigung vor dem vierten Krankheitstag verlangen darf, dem Arbeitgeber einen Regelungsspielraum. An der Ausgestaltung des Regelungsspielraums zum „Ob“ und zum „Wie“ der Nachweispflicht hat der Betriebsrat mitzubestimmen (BAG, 23. August 2016 – 1 ABR 43/14, juris Rn 16). Im Einzelfall besteht das freie Ermessen des Arbeitgebers, vorzeitig die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zur verlangen. Stellt er aber eine Regel auf, die für alle Arbeitnehmer Geltung beanspruchen soll, schafft er einen kollektiven Sachverhalt, den der Betriebsrat mitzubestimmen hat (BAG, aaO., Rn 17).

c. Entsprechendes gilt für Anordnungen, die Modalitäten der vorzeitigen Attestpflicht betreffen.

aa. Im Hinblick darauf, dass § 5 Abs. 1 EFZG als die einschlägige gesetzliche Regelung insoweit keine Festlegung enthält, unterliegt auch die verbindliche Anordnung, gegenüber welchen betrieblichen Stellen die Erfüllung der Nachweispflicht zu erfolgen hat, dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats (vgl. zur Pflicht, die erkrankungsbedingte Arbeitsunfähigkeit dem Arbeitgeber anzuzeigen: LArbG Baden-Württemberg, 13. November 2006 – 15 TaBV 9/06, juris Rn 29).
bb. Mit der regelhaften Festlegung, wie weit der gesetzlich vorgegebene Zeitraum von drei Tagen abgekürzt und ein Attest vorzeitig verlangt wird, gebraucht der Arbeitgeber ebenfalls einen Spielraum aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG, so dass daran der Betriebsrat zu beteiligen sein würde. Entsprechendes gilt bei einer Vorschrift zur Geltungsdauer der Attestauflage. § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG berechtigt den Arbeitgeber, den vorzeitigen ärztlichen Nachweis für eine bestimmte erkrankungsbedingte Arbeitsunfähigkeit zu verlangen. Das Verlangen kann aber auch antizipiert und allgemein abstrakt für alle künftigen Arbeitsunfähigkeitszeiten infolge Erkrankung erfolgen (vgl. ErfK/Reinhard, 22. Aufl. 2022, EFZG § 5 Rn 12). Anders als die Arbeitgeberin meint, drückt daher die Festlegung der Geltungsdauer bis auf Widerruf keine bloße Selbstverständlichkeit aus. Vielmehr würde mit einer entsprechenden Regel oder Handhabung eine Festlegung innerhalb des aufgezeigten Regelungsspielraums aus § 5 Abs. 1 Satz 3 EFZG erfolgen.

d. Dagegen unterliegen eine Vorgabe zur Abstimmung zwischen Fachvorgesetztem und Personalleitung vor Erteilung einer Attestauflage oder die Androhung von arbeitsrechtlichen Maßnahmen für den Fall ihrer Missachtung nicht dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in Fragen der Ordnung des Betriebs. Die auf die Unterlassung entsprechender Vorgaben zielenden Hilfsanträge sind bereits aus diesem Umstand unbegründet.

aa. Der in dem Musterschreiben angesprochene Umstand, wonach die Erteilung der Attestauflage „in Abstimmung zwischen Ihrem/Ihrer Fachvorgesetzten und dem/der Personalleiter*in“ erfolge, berührt nicht das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in Fragen der Ordnung im Betrieb. Auch bei Annahme einer entsprechenden regelhaften Vorgabe würde es sich um eine arbeitgeberinterne Anordnung zu Entscheidungsprozessen handeln, die mitbestimmungsfrei bliebe.
bb. Nicht unter den Mitbestimmungstatbestand aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG fällt die Ausübung individualrechtlicher Befugnisse, durch die der Arbeitgeber auf ein Fehlverhalten des Arbeitnehmers reagiert, zB. eine Abmahnung, Versetzung oder Kündigung (Richardi BetrVG/Richardi, 16. Aufl. 2018, BetrVG § 87 Rn. 185). Der Arbeitgeber kann mit diesen individualrechtlichen Möglichkeiten auch auf Verstöße des Arbeitnehmers gegen die kollektive betriebliche Ordnung, die das Ordnungsverhalten der Arbeitnehmer im Betrieb regelt, reagieren, ohne dass seine Reaktion dadurch mitbestimmungspflichtig würde (vgl. BAG, 17. Oktober 1989 – 1 ABR 100/88, juris Rn 39). Wenn aber die Ausübung individualrechtlicher Befugnisse mitbestimmungsfrei bliebe, muss dies erst recht für die in das Musterschreiben aufgenommene Androhung solcher Maßnahmen gelten.

4. Vorliegend ist es durch die Erteilung von Attestauflagen nicht zu einer Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats gekommen. Der erforderliche kollektive Tatbestand fehlt.“

Suchen
Autor(en)


Rüdiger Soltyszeck, LL.M.
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Arbeitsrecht

Mail: koeln@etl-rechtsanwaelte.de


Alle Kontaktdaten

Weitere interessante Artikel